Höllgrund

Strenger, Wittgenstein, Lauterbach, Seng/Rasch. Sie haben es nicht anders verdient

Foto: SWR / Maria Wiesler
Foto Tilmann P. Gangloff

Der Titel lässt es bereits erahnen: „Höllgrund“ (SWR / Studio Zentral) ist trotz der Schwarzwaldbilder das Gegenteil einer beschaulichen Heimatgeschichte. Zentrale Figur ist eine Dorfpolizistin, die auf eigene Faust eine Reihe mysteriöser Todesfälle aufklären will; und ihr Hauptverdächtiger ist ausgerechnet der schmucke Landarzt, in den sie sich verliebt hat. Wer sich nicht davon abschrecken lässt, dass es mitunter deftig und gewalttätig zugeht, wird mit einer clever konzipierten, immer wieder überraschenden Serie belohnt, deren acht Folgen dank ihrer Kürze von dreißig Minuten ungemein dicht erzählt sind. Der Rache-Topos mag nicht originell sein, aber wie Marc O. Seng und Koautorin Maike Rasch die Handlung verpackt haben, ist große Drehbuchkunst. Deutschen Provinzkrimis wird gern mal eine Nähe zu den Werken der Coen-Brüder nachgesagt; hier ist der Vergleich angebracht.

Eine Schwarzwaldserie! Das wird die „Fallers“-Fans freuen. Allerdings nicht lange: Wer „Höllgrund“ in der Hoffnung auf schöne Naturaufnahmen und beschauliche Familien-Geschichten einschaltet, wird schon während des wie ein Horrorfilm gestalteten Prologs die Flucht ergreifen; insofern ist es erfreulich mutig vom SWR, die Serie, die zunächst in der ARD-Mediathek angeboten wird, im dritten Programm um 20.15 Uhr auszustrahlen. Wer sich von den ersten Bildern, als ein Junge buchstäblich zur Schlachtbank geführt wird, nicht abschrecken lässt, wird mit acht Folgen belohnt, die es in sich haben. Dabei geht es zuweilen recht makaber und auch mal heftig deftig zu. Wenn sich jemand eine Kugel in den Kopf schießt und darauf ein Umschnitt auf eine zu Boden gestürzte Terrine mit Gulasch erfolgt, ist das genauso unappetitlich wie ein Rundgang durch einen Schlachthof. Trotzdem weckt der Vorgeschmack, je nach Temperament, falsche Befürchtungen oder Erwartungen: „Höllgrund“ ist eine äußerst intelligent erzählte, clever konzipierte und mit Liebe zum (mitunter blutigen) Detail umgesetzte Serie. Typisch für den Anspruch ist der Scherenschnitt, mit dem der Vorspann beginnt. Das Bild bietet eine Zusammenfassung der komplexen Handlung auf einen Blick; vor jeder Folge wird ein anderer Aspekt hervorgehoben. Großen Anteil an der Atmosphäre hat auch die Musik. Meist wirkt es einfallslos, wenn anstelle einer eigenen Komposition eingespielte Lieder den jeweiligen Szenen eine bestimmte Stimmung verleihen sollen, aber in diesem Fall ist die Song-Auswahl auffallend ungewöhnlich und markant.

HöllgrundFoto: SWR / Maria Wiesler
Als sei der Landarzt noch am Leben … Tanja (Lou Strenger) ist entschlossen, Hajos (Heiner Lauterbach) Todesumstände aufzuklären.

Zu einer besonderen Serie wird „Höllgrund“ jedoch durch die Geschichte, selbst wenn das Handlungsmotiv Rache auf den ersten Blick nicht sonderlich originell klingt; doch wie Marc O. Seng, Schöpfer der fesselnden Thriller-Serie „Unbroken“ (2021, ZDFneo; mit Aylin Tezel als hochschwanger entführte Polizistin), und seine Koautorin Maike Rasch ihre Erzählung verpackt haben, ist große Drehbuchkunst. Die erste Folge startet denkbar harmlos: Landarzt Armbruster (Heiner Lauterbach) begrüßt die alte Irmi Freischütz (Michaela Caspar), die ihn wie jeden Morgen auf der Bank vor seiner Praxis erwartet. Aber schon kurz drauf ist die Idylle dahin: Der Arzt hat sich offenbar erhängt, die alte Frau sitzt zwar auf ihrem angestammten Platz, ist jedoch ebenfalls tot, der trinkfreudige Wirt erschießt sich, der demente Pfarrer stürzt von der Orgelempore, der Schlachthofbesitzer und der Chef des örtlichen Polizeipostens entgehen dem Tod nur um Haaresbreite. Die Betroffenen waren allesamt Mitglieder des Kirchenchors. Ein vor gut zwanzig Jahren aufgenommenes Foto zeigt die Damen und Herren in vermeintlicher Eintracht; der Schnappschuss kommt nun einer Todesliste gleich. Die gerahmte Aufnahme steht auch in der Praxis von Armbruster, aber sie ist nicht komplett: Die linke Seite ist abgeknickt. Die junge Frau (Alissa Atanassova), deren Andenken auf diese Weise getilgt werden soll, schwebt wie ein schöner Racheengel durch die knapp 240 Minuten. Für die Todesserie ist jedoch, wie schon der Schluss der ersten Folge verrät, ausgerechnet der Nachfolger Armbrusters, Fabian Lambert (August Wittgenstein), verantwortlich: Weil der neue Landarzt verkatert verschlafen hat und die alte Irmi des Wartens überdrüssig wurde, hat sie ihn in seinem Pensionszimmer aufgesucht; das hätte sie mal besser bleiben lassen.

Soundtrack: Fantastic Negrito („Plastic Hamburgers“), Dead Kennedys („Too Drunk To Fuck”), Reijo Taipala („Satu maa”), JD McPherson („Lucky Penny”), Pinstripes („Breaking The Law”), Blues Pill („Little Sun”), AC/DC („Ride On”), Dean Martin („Ain’t That A Kick In The Head”), Bror Gunnar Jansson („The Church Bell’s Tone”), Cari Cari („Mazuka”), Hank Williams („I’m so Lonesome I Could Cry”), Black Pumas („Oct 33”), Madriguada („Majesty”), Cigarettes After Sex („Nothing’s Gonna Hurt You Baby”), Ozzy Osbourne („Mama, I’m Coming Home”), No Money Kids („Rather Be The Devil”), PJ Harvey („To Bring You My Love”), Danzig („Devil’s Plaything”), Janis Joplin („Cry Baby”)

HöllgrundFoto: SWR / Maria Wiesler
Konsequente Reduktion. Fabian (August Wittgenstein) und Tanja (Lou Strenger) fühlen sich zueinander hingezogen – aber stehen sie überhaupt auf derselben Seite?

Die Nacht hat Fabian mit Tanja Hartholz (Lou Strenger) verbracht. Die Dorfpolizistin hat profunde Zweifel am Suizid Armbrusters, mit dem sie regelmäßig postume Zwiegespräche führt, und wundert sich auch über die Häufung ominöser Todesfälle. Dass sie sich in den schmucken Doktor verliebt, wird fortan selbstredend für Komplikationen sorgen und ist ein weiterer Baustein dieses Gesamtkunstwerks: Seng, Rasch sowie das Regieduo Lea Becker und Hanno Olderdissen wechseln immer wieder das Genre. Und so ist „Höllgrund“ mal Krimi, mal Familiendrama, mal Romanze, inklusive der entsprechenden filmischen Umsetzung. Verblüffend effektvoll ist auch die eigentlich simple Idee, die kurzen Rückblenden in jenes gut zwei Jahrzehnte zurückliegende Jahr, als das unheilvolle Schicksal seinen Lauf nahm, im Format 4 zu 3 zu filmen. Jede der auch dank ihrer Kürze (dreißig Minuten) äußerst dichten Episoden beginnt auf diese Weise, erst dann wechselt das Bild ins Format 16 zu 9. Da Folge sechs erzählt, was sich damals zugetragen hat, ist sie komplett in 4 zu 3 gehalten. Für weitere Überraschungen sorgen die Figuren, die allesamt ein zweites Gesicht offenbaren; so entpuppt sich zum Beispiel Moni Freischütz (Ulrike C. Tscharre), die eigentlich ganz nette Gattin von Tanjas Vorgesetztem (Andreas Anke), als veritable Lady Macbeth, während Tanjas Vater, Josef Hartholz (Nicki von Tempelhoff), dem Anschein zum Trotz einer von den Guten ist; selbst wenn in seinem Schlachthof allerlei Schweinereien passieren.

Zur speziellen Qualität von „Höllgrund“ gehört auch die konsequente Reduktion: Das Ensemble ist überschaubar, die Kameraarbeit (Carol Burandt von Kameke, Karl Kürten) ist zurückhaltend und konzentriert sich auf die Figuren. Von seiner Kollegin Lou Strenger werde es noch eine Menge zu sehen geben, ist August Wittgenstein überzeugt. Tatsächlich ist ihre Rolle ähnlich facettenreich wie seine, wobei ihm das Kunststück gelingt, bei aller Ambivalenz der Figur dennoch Sympathieträger zu bleiben. Der klassische Western-Topos des Rächers, der an den Ort eines grausigen Verbrechens zurückkehrt, spielt dabei natürlich auch eine Rolle, weshalb die ziemlich gewalttätige siebte Folge ausgesprochen bleihaltig ist. Dritte Hauptdarstellerin ist wie zu erwarten die Landschaft, von der es durchaus auch Ansichtskartenmotive gibt, aber bei den meisten frühwinterlichen Panoramabildern kommt keinerlei Heimeligkeit auf; von einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion Tanjas, als sie auf eigene Faust ein Grab aushebt, ganz zu schweigen. Den Rest besorgt die maßgeblich von Max Filges geprägte Filmmusik, die ein ähnlich reizvoller Hybrid ist wie die Serie selbst: Der Komponist hat elektronische Klänge mit einem Volksmusikinstrument kombiniert. Vielen Provinzkrimis wird gern eine Nähe zu den Werken der Coen-Brüder nachgesagt; bei „Höllgrund“ ist der Vergleich in der Tat angebracht. (Text-Stand: 27.8.2022)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Serie & Mehrteiler

SWR

Mit Lou Strenger, August Wittgenstein, Heiner Lauterbach, Ulrike C. Tscharre, Andreas Anke, Nicki von Tempelhoff, Alissa Atanassova, Guido Renner, Heiner Hardt, Michaela Caspar, Jakob Geßner, Joy Maria Bai, Michael Stange

Kamera: Carol Burandt von Kameke, Karl Kürten

Szenenbild: Peter R. Schwab

Kostüm: Nicole Hutmacher

Schnitt: Renata Salazar Ivancan, Denize Galiao

Musik: Max Filges, Christoph Schauer

Redaktion: Katharina Dufner

Produktionsfirma: Studio Zentral

Produktion: Lasse Scharpen

Drehbuch: Marc O. Seng, Maike Rasch

Regie: Hanno Olderdissen, Lea Becker

EA: 16.09.2022 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach