Hierankl

Wokalek, Sukowa, Bierbichler, Simonischek, Hans Steinbichler. Ausgezeichnet

Foto: BR / Walter Wehner
Foto Tilmann P. Gangloff

Hans Steinbichler gelingt mit seinem mehrfach preisgekrönten Spielfilm-Debüt „Hierankl“ ein kraftvolles Heimatdrama, das die Züge einer klassischen Tragödie trägt. Hinter Bella Halbens eindrucksvollen Bildern vom imposanten Bergpanorama tun sich familiäre Abgründe auf. Es ist ein Schauspielerfilm, überragend Wokalek & Sukowa. Und es ist eine Hommage ans Chiemgau: Steinbichler wollte „verdorrte, zerschrammte Seelen vor einer Bilderbuch-Landschaft“ zeigen, „eine Lücke schließen zwischen Idylle & der totalen Vernichtung“.

Johanna Wokalek ist eine dieser eher schmächtigen Frauen, die man leicht unterschätzt. Selbst mit dreißig hätte sie noch locker als 18-Jährige durchgehen können. Für eine Schauspielerin ist so etwas der Karriere durchaus förderlich: Eine Frau älter wirken zu lassen, ist dank Schminke kein Kunststück; jünger ist schon schwieriger. Allerdings wäre es hanebüchen, die darstellerischen Qualitäten der gebürtigen Freiburgerin auf diese Form von Wandlungs-Fähigkeit zu reduzieren. Schon beim Kinostart von Hans Steinbichlers Regiedebüt „Hierankl“ (2003) war Wokalek dank Rainer Kaufmanns TV-Drama „Die Kirschenkönigin“, in dem sie die Titelrolle spielte, weit über den Status eines Insider-Tipps hinaus. Während der Schulzeit entdeckte sie ihre Liebe zum Theater; gleich nach dem Abitur wurde sie am renommierten Wiener Max-Reinhard-Seminar aufgenommen. Sie hatte das Schauspielstudium noch nicht beendet, da fiel sie dem Fachpublikum bereits mit einer kleinen, aber wichtigen Rolle in dem Kinofilm „Aimée und Jaguar“ an der Seite von Maria Schrader und Juliane Köhler auf.

HieranklFoto: BR / Walter Wehner
Es bleibt in der Familie. Lene (Johanna Wokalek) und der Ex-Liebhaber ihrer Mutter (Peter Simonischek)

Ohnehin scheint sie die Zusammenarbeit mit älteren Kolleginnen noch zu beflügeln. Nach diversen Theaterpreisen als beste Nachwuchsdarstellerin wurde sie für „Hierankl“ auch als Filmschauspielerin ausgezeichnet. Der Preis hat gewissermaßen zwei Eltern: den Regisseur Hans Steinbichler, der mit dem Film nach mehreren Dokumentationen sein szenisches Debüt ablieferte; und die Schauspielerin Barbara Sukowa. Sukowa gehört immer noch zu den ganz Großen im Lande, doch damals war es recht still um sie geworden. Steinbichlers Drehbuch war offenbar gut genug, um sie aus ihrem selbst gewählten Exil zu locken. Tatsächlich hat der Film mehr Kraft als die Werke manch’ anderer, die schon seit vielen Jahren Filme drehen. Mit Johanna Wokalek und Barbara Sukowa erzählt der junge Regisseur ein Heimatdrama, das die Züge einer klassischen Tragödie trägt, denn hinter den eindrucksvollen Bildern vom imposanten Bergpanorama (Kamera: Bella Halben) tun sich familiäre Abgründe auf. Die Geschichte beginnt harmlos. Am Münchener Hauptbahnhof entscheidet sich Lene (Wokalek) spontan, nicht zurück nach Berlin, sondern in ihre Heimat ins Chiemgau zu fahren; fünf Jahre ist sie nicht mehr in Hierankl, dem Hof ihrer Eltern, gewesen. Ihr Vater (Josef Bierbichler) wird sechzig und hat Freunde und Verwandte eingeladen. Selbst sein uralter Studienfreund Götz (Peter Simonischek), der sich dreißig Jahre lang nicht hat blicken lassen, schaut vorbei. Götz gilt als frühe Jugendliebe von Mutter Rosemarie (Sukowa). Spontan verliebt sich auch Lene in ihn – ein weiterer Stich ins Herz ihrer Mutter.

Ein tiefes Zerwürfnis trennt die beiden Frauen. Für Lene hat immer ein kleiner Porzellanengel mit nur einem Flügel symbolisiert, wie sie sich fühlt. Kinder, erzählt sie, seien wie Engel; die Eltern sind die beiden Flügel. Doch Lene kam es stets so vor, als habe sie bloß einen Flügel gehabt. Ihr fehlte die Liebe eines Elternteils; der fehlende Flügel, das war ihre Mutter. Am Ende des Festes, als sich das Ehepaar mit einigen unangenehmen Wahrheiten konfrontiert und alte Rechnungen beglichen hat, muss Lene entsetzt erfahren, dass ihr gesamtes Leben auf einer Lüge basiert; der fehlende Flügel steht mitnichten für ihre Mutter.

Zu seiner Entstehungszeit, 2003, war „Hierankl“ eines der stärksten Debüts seit langem. Beim Filmfest München wurde Steinbichler für seine Regie und Johanna Wokalek als beste Darstellerin mit dem Förderpreis Deutscher Film ausgezeichnet; beim Fernsehfilmfestival Baden-Baden gab es den Nachwuchspreis der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg. Die weiteren Darsteller sind nicht minder sehenswert, zumal es Steinbichler gelungen ist, ein äußerst namhaftes Ensemble zu versammeln. Neben den großartigen Alt-Mimen Bierbichler und Simonischek sind dies vor allem Frank Giering als Lenes Bruder Paul sowie Alexander Beyer als Pauls Freund, der ein Verhältnis mit Lenes Mutter hat. Trotz aller Abgründigkeit ist „Hierankl“ aber auch eine Hommage ans Chiemgau. Hier kommt Steinbichler her, es ist seine Heimat. Doch der Begriff hat für ihn „viel mit Kampf und Durchbrechen der schönen Bilder“ zu tun: Er wollte mit dem Film „verdorrte, zerschrammte Seelen vor einer Bilderbuchlandschaft“ zeigen. Bei Seelenverwandten wie Kroetz oder Achternbusch wäre die Geschichte höchstwahrscheinlich ungleich hasserfüllter ausgefallen; „Hierankl“ aber soll „eine Lücke schließen zwischen Idylle und der totalen Vernichtung“.

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Kinofilm

BR

Mit Johanna Wokalek, Barbara Sukowa, Josef Bierbichler, Peter Simonischek, Frank Giering, Alexander Beyer

Kamera: Bella Halben

Szenenbild: Johannes Sternagel

Schnitt: Christian Lonk

Musik: Antoni Lazarkiewicz

Produktionsfirma: Avista Film

Drehbuch: Hans Steinbichler

Regie: Hans Steinbichler

EA: 15.04.2005 20:40 Uhr | Arte

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