„Konsequenter und vor allem zeitnah urteilen und vollziehen“
Die Polizei verdächtigt den mehrfach vorbestraften Marek Kurth (Sebastian Urzendowsky), sich an Jugendrichter Werner Kleinert (Heino Ferch) rächen zu wollen. Kurth hat seine Bewährungsauflagen nicht erfüllt und ist untergetaucht. In seinem Schrank hängen zahlreiche Fotos von Kleinert. Der Richter ist für seine harten Urteile bekannt. „Konsequenter und vor allem zeitnah urteilen und vollziehen“, ist sein Credo. Eine Gerichtsszene bezeugt die Haltung des Juristen: Eine junge Frau, die in fünf Monaten drei Kaufhaus-Diebstähle beging, verurteilt er zu sechs Monaten Jugendarrest. Kleinert geht dabei über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus. Drohungen ist er gewohnt, Personenschutz durch die Polizei lehnt er ab – sogar dann noch, als ein Unbekannter einen Brandsatz wirft, während die Familie beim Abendessen sitzt. „Nur ein Dummer-Jungen-Streich“, sagt er zu seiner Frau Johanna (Nele Mueller-Stöfen).
Gekünstelte Konfrontation zwischen Vater und Tochter
Der siebte „Helen Dorn“-Fall kommt zu Beginn wie ein Themenfilm zum Jugendstrafrecht daher. In zum Teil vordergründigen Dialogen wird der Rahmen abgesteckt: Der Richter erläutert seine Haltung mehrfach. Als „Gegenspielerin“ tritt seine Tochter Lisa (Caroline Hartig) auf, die ihm beim Abendessen Vorwürfe macht. Die etwas gekünstelte Konfrontation gipfelt in einem Nazi-Vergleich („genau wie damals unter Hitler“) von Lisa. Im Gespräch zwischen der mürrischen LKA-Kommissarin Helen Dorn (Anna Loos) und ihrem ebenso mürrischen Vater, der selbst Polizist war, wird dann auch ein sachliches Gegen-Argument ins Feld geführt: Im Gefängnis würden junge Straftäter nicht zu besseren Menschen werden, im Gegenteil. „Einer, der ein Handy geklaut hat, begeht dann einen bewaffneten Raubüberfall. Und wo hat er das gelernt? Im Knast“, sagt Richard Dorn (Ernst Stötzner).
Nach zähem Beginn kommt Leben in den Film
Nachdem die Fronten in diesem recht zähen Beginn geklärt sind, kommt Leben in den Film. Das Thema rückt in den Hintergrund, das Drehbuch bietet unverhoffte Wendungen und dringt tiefer in die Figuren ein. Die Zuschauer sind Helen Dorn dabei erst mal einen Schritt voraus. Man sieht Marek in einer Schwulenkneipe, beobachtet, wie er gemeinsam mit seinem Freund Tristan (Jonathan Berlin) einen Freier brutal abzieht. Die Kommissarin ermittelt einen weiteren Verdächtigen für den Brandanschlag: Martin Thomczyk (Peter Schneider), dem der Richter einst nach dem Krebstod seiner Frau das Sorgerecht für die kleine Tochter entzogen hatte. Dann findet man überraschend Mareks Leiche im Rhein, und auch im privaten Handlungs-Strang ziehen Buch & Inszenierung die Spannungsschraube an: Richard Dorn bricht vor dem Kühlschrank zusammen. Helen Dorn findet ihn erst nach einer Weile, doch ihr Vater überlebt.
Helen Dorn kann mehr als immer nur schweigsam und stur sein
Die Dramatik steigert sich, das Tempo bleibt in Alexander Dierbachs Inszenierung gemächlich. Aus dem Themenfilm wird ein solides Krimidrama, das die menschlichen Beziehungen, die Psychologie der Figuren und ihre Geheimnisse in den Mittelpunkt rückt. Auch die Kommissarin, die bisher als Einzelgängerin mit trauriger Vorgeschichte recht eindimensional wirkte, gewinnt an Profil. Nach wie vor fehlt Anna Loos im Kommissariat ein ebenbürtiger Mitspieler, Dorns Chef Falk Mattheisen (Daniel Friedrich) bleibt blass und bietet kaum Reibungsflächen. Aber Anna Loos darf der Figur aufgrund der schweren Erkrankung des Vaters weichere Züge verleihen. Auch in den Gesprächen mit Nachtschwester Nina (Franziska Hartmann) deutet sich an, dass Helen Dorn in Zukunft mehr Facetten zeigen könnte als immer nur schweigsam und stur geradeaus. Eine solch vorsichtige Öffnung, ohne die Figur zu verraten, könnte der Reihe gut tun. In „Gnadenlos“ tröstet sie die am Weltschmerz im Allgemeinen und ihrem Vater im Speziellen leidende Lisa. Und dem von Schicksalsschlägen gebeutelten Thomczyk bringt sie ebenfalls Verständnis entgegen. Dass das etwas hölzern wirkt, ist schon in Ordnung: Die aus Verzweiflung und Einsamkeit arbeitswütige Helen Dorn muss ja nicht gleich zur sensiblen Therapeutin mutieren.
Der Titel erinnert an Ronald „Richter Gnadenlos“ Schill
Es geht jedenfalls arg depressiv zu in dieser Krimitragödie; an Selbstmord denken gleich mehrere Figuren. Und dass auch der Richter sein Geheimnis hat, kommt nicht wirklich überraschend. Der überzeugende Heino Ferch spielt diesen Juristen mit der strengen Haltung ganz leise und zurückgenommen, beinahe sanft. Er gibt gewissermaßen den Anti-Schill. Denn durch den Titel wird man leider sofort an den vom Boulevard zum „Richter Gnadenlos“ ernannten Ronald Schill erinnert, der es zuletzt bis zum RTL-Nackedei in „Adam und Eva“ gebracht hat. Schill war eine Art Vorbote des gegenwärtigen Rechtspopulismus‘ und war sogar mal Innensenator von Hamburg. In dieser Funktion wollte er im Jahr 2003 den Ersten Bürgermeister Ole van Beust (CDU) mit der Drohung unter Druck setzen, er würde dessen Homosexualität publik machen. Im Film wird Jugendrichter Kleinert von seiner Tochter zusammen mit Tristan im Auto gesehen. An einer anderen Stelle heißt es, der Richter habe vor ein paar Jahren eine Affäre mit einer anderen Frau gehabt. Drehbuch und Inszenierung wirken nicht moralinsauer, die Figur wird nicht verteufelt und ist – auch dank Ferch – keine plumpe „Richter Gnadenlos“-Parodie. Aber mit der bösartigen Raffinesse von Martin Brambachs Darstellung in der „Unter Verdacht“-Folge „Ein Richter“ kann Ferchs Kleinert nicht mithalten.