Heimat – Eine deutsche Chronik

Edgar Reitz, die Geschichten und die zeitgenössische Kritik: Wir sind Schabbach

Foto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Foto Rainer Tittelbach

Die ARD-Serie „Heimat“ war 1984 ein echtes Fernsehereignis: über einen Monat lang folgten 15 Millionen Zuschauer den Lebenswegen einer Hunsrücker Familie durch das letzte Jahrhundert. „Heimat“ gab den Deutschen einen (identitätsstiftenden) Begriff zurück. Über die 924-minütige Serie ist schon alles gesagt worden. Deshalb ist dieser Text zum größten Teil eine Materialsammlung aus zeitgenössischen Kritiken und aus Inhaltsangaben zu der neu geschnittenen und digital restaurierten siebenteiligen Fassung, die Arte 2015 ausstrahlt.

Edgar Reitz schreibt mit „Heimat“ Fernsehgeschichte
Die ARD-Serie „Heimat“ war 1984 ein echtes Fernsehereignis mit seinen 924 Minuten, seinen 282 Drehtagen und einer Gesamtherstellungszeit von fünf Jahren. Dass er Geschichte nicht mehr gleichsetzte mit staatstragender Historie, sondern Geschichte aus dem Alltag ableitete, dem gelebten Leben der Menschen – das war eines der großen Verdienste von Edgar Reitz, der im Kino viele Jahre unter seinen Möglichkeiten blieb. Reitz demokratisierte die Geschichte, entpolitisierte sie aber nicht (wie es die Fernsehserien aus dem Milieu der kleinen Leute damals taten). Rund 15 Millionen Zuschauer folgten über einen Zeitraum von vier Wochen den Lebenswegen einer Hunsrücker Familie durch das letzte Jahrhundert. „Heimat“ zeigte unter anderem, dass auch das Kleinbürgertum auf dem Land in die NS-Zeit nicht einfach hineingeschlittert ist, sondern vorsätzlich wieder „aufwärts“ streben wollte, und die TV-Serie machte den durch den Blut-und-Boden-Mythos des Nationalsozialismus’ und durch den nicht weniger ideologischen bundesdeutschen Heimatfilm der Nachkriegszeit den verloren gegangenen Begriff ‚Heimat’ wieder bundesrepublikanisch gesellschaftsfähig. Dieses Werk, das in seiner ästhetischen Raffinesse dank Kameramann Gernot Roll dem Kino in Nichts nachsteht, lässt sich inhaltlich und formal als Endpunkt des Neuen Deutschen Films sehen.  Es ist Edgar Reitz’ Meisterstück, an dessen beeindruckende Leichtigkeit in der Bearbeitung eines historisch relevanten Stoffs er mit „Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend“ (1992), „Heimat 3 – Die Chronik einer Zeitenwende“ (2004) und dem Abschlussfilm im Kino, „Die andere Heimat“ (2013), nicht mehr herankommen sollte. Arte strahlt den ursprünglich elfteiligen ersten Zyklus von „Heimat“, der auch international sehr erfolgreich war, ab dem 27.8.2015 in einer digital restaurierten und neu geschnittenen siebenteiligen Fassung aus.

Heimat – Eine deutsche ChronikFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Sie ist das Gesicht, an das man sich erinnert: Marita Breuer in „Heimat – Eine deutsche Chronik“, DEM Fernsehereignis 1984

Die Inhaltsangaben der ersten drei Episoden (Quelle: Arte);

(1): Fernweh (1919-1928)
Die Geschichte der Familie der Maria Simon im Hunsrückdorf Schabbach: 1919 kehrt Paul Simon aus der Kriegsgefangenschaft in sein Heimatdorf zurück. Auf dem Dachboden seines Elternhauses baut er das erste Radio des Dorfes und öffnet so ein Fenster zur Welt. Er verliebt sich in Apollonia, die ein Kind von einem französischen Soldaten erwartet, und heiratet dann doch Maria, mit der er zwei Söhne bekommt. Sein Bruder Eduard wird zum Goldgräber und erkrankt schwer. Eines Tages verlässt Paul ohne Abschiedswort das Dorf.

(2): Die Mitte der Welt (1929-1933)
Paul bleibt verschwunden und Maria muss nun sehen, wie sie alleine mit den Kindern über die Runden kommt. Schwiegervater Mathias verkauft ein Stück Land, um seinem kranken Sohn Eduard eine Behandlung in Berlin zu ermöglichen. Dort verliebt sich Eduard in Lucie, die Leiterin eines Bordells. Lucie bringt Eduard dazu, in die SA einzutreten. Die Schabbacher verfolgen die politischen Umwälzungen des Landes aus der Distanz. Katharina muss mit ansehen, wie ihr Neffe, ein gemäßigtes KP-Mitglied, verhaftet und in ein KZ deportiert wird.

(3): Weihnacht wie noch nie / Reichshöhenstraße (1935-1938)
Lucie will zu den höheren Kreisen gehören und schafft es, mit ihrem Eduard die Villa mit 52 Fenstern zu bauen. Hänschen entdeckt sein Talent als Scharfschütze. Wilfried kommt von seiner SS-Ausbildung zurück und organisiert mit Lucie ein Treffen von hohen NSDAP-Funktionären in der neuen Villa des Bürgermeisters. Die Reichshöhenstraße soll gebaut werden und Otto Wohlleben kommt bei der Familie Simon unter. Aufgrund eines Unfalles ist er auf Marias Hilfe angewiesen und die beiden verlieben sich. Lucie fühlt sich empfindlich gestört durch den Besuch des Mädchens Martina aus ihrem früheren Berliner Etablissement.

Heimat – Eine deutsche ChronikFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Der Schabbacher Glasisch Karl (Kurt Wagner), macht sich über den jungen Wiegand, der im Auto seines Vaters sitzt, lustig.

Auszüge aus den 1984er-Fernsehkritiken zu „Heimat“:

„… ‚Heimat’ – das ist das Haus, in dem man geboren wurde, das ist die Stadt, in der man aufwuchs und alt wurde, das sind die Freunde, das ist die Sprache, die man lernte, das sind die Erinnerungen, die man hat. Wer sich nicht dazu bekennt, verleugnet sie. So wie jeder Mensch eine Herkunft hat, so sollte auch der Begriff Heimat seiner natürlichen Bedeutung zugeführt werden – und wenn es durch eine elfteilige Fernsehserie ist.“ (Peter Kruse, Hamburger Abendblatt)

„… ‚Heimat’ ist ein Stück Gesellschafts- und Zeitgeschichte unserer nachmaligen Republik, so umfassend, wie es bisher noch nie zu sehen war. Geschichte aus der Perspektive derer, die sie erleiden, und darum konnte sich auch der einzelne Zuschauer hier in Konstellationen und Stimmungen wiederfinden… ‚Heimat’ wurde auch darum zum Erfolg, weil der nicht vorkalkulierbar war…“ (Brigitte Desalm, Kölner Stadt-Anzeiger)

„… ‚Heimat’, der Titel ist faszinierend zwiespältig: belastet in dunkler Zeit, als die Nazis und die Ufa den Begriff zum Mythos umlügen wollten, aber auch ein Zentrum der Sehnsucht, ein Ort in dem nach Bloch ‚noch niemand war’. Wenn man so will, war der ganze Neue Deutsche Film um diese zwiespältige Heimat gekreist. Edgar Reitz hat es gewagt, was so viele seiner Kollegen auch wollten und sich nicht trauten, nämlich in die ‚Mitte der Welt’ zu gehen. Und damit ist ihm gelungen, was nach 20 Jahren Neuer Deutscher Film noch ausstand: dessen Summe, dessen Requiem. ‚Heimat’ dürfte für den Neuen Deutschen Film das werden, was ‚Die Blechtrommel’ für die deutsche Nachkriegsliteratur geworden ist…“ (Peter Buchka, Süddeutsche Zeitung)

„… ‚Heimat’ übersetzt die große deutsche Geschichte in eine Dimension, in der sie der Größe entkleidet wird, nämlich die der kleinen Leute, die ihr Leben in Würde auch ohne Größe führen. Wenn man diese Erinnerung hören und sehen kann, dann kann man davon nur schwer Abschied nehmen.“ (Karsten Witte, Die Zeit)

„… Da wird mit dem Vorurteil aufgeräumt, Fernsehen könne nicht tief und differenziert sein. So ist es eine Lust, sich in die Landschaft (Hunsrück) und die Menschen, die in ihr leben, hineinzufühlen. ‚Heimat’, das sind wir alle, auch wenn wir nicht aus Schabbach kommen. Denn es ist ein ganz und gar ‚deutscher’ Film, liebevoll und entlarvend zugleich.“ (Gong)

Heimat – Eine deutsche ChronikFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Dem Radio sei Dank. Zugang zur Welt. Der Bürgermeister (Johannes Lobewein) lauscht der Orgelmusik aus dem Kölner Dom.

„… Anders als die schon recht abgenutzten ‚Ideen-Filme’ stellt ‚Heimat’ unverkrampfte, starke Gefühle in den Mittelpunkt. Das macht den Reichtum dieses Filmwerks aus. Wenn eine Fernsehserie es fertigbringt, die Feuilletonisten des Landes zu beschäftigen und gleichzeitig die Boulevardpresse, wenn sie Wochenendausflügler in die Gegend lockt, wo sie entstanden ist, und die Gesichter ihrer Darsteller sich fast so gut eingeprägt haben wie die der netten Schaumschläger in den Unterhaltungsprogrammen, dann darf man wohl sagen, sie war populär…“ (Monika Buschey, Westdeutsche Allgemeine Zeitung)

„… wie Gernot Roll die Bewegungen der Landschaft einfängt, wie er in die Gesichter der Schauspieler eindringt, den Lebensraum der Schabbacher erfahrbar macht, wie er die Erzählebenen wechselt (Nähe und Fremdheit stehen nebeneinander), den Gang der Zeit verdeutlicht, das hat man so im Fernsehen noch nicht gesehen, das ist ein Meisterwerk, der größten Auszeichnungen wert.“ (Thomas Thieringer, Frankfurter Rundschau)

„… Der ruhige Blick, die Liebe zur Sprache, das Vertrauen in die Welthaltigkeit all dieser bewegenden, seltsamen, lächerlichen und schönen Provinzgeschichten: Das gibt diesem Film seine Sicherheit, seine leise, unangestrengte Größe…“ (Urs Jenny, Der Spiegel)

„… Vor allem Marita Breuer als Maria ist gar noch nicht genug gerühmt worden. Ihre außergewöhnliche Leistung fällt nun erst über die lange Bildschirmdistanz so recht ins Auge; sie sorgt in märchenhafter Übereinstimmung mit ihrer Jahrhundertfigur für Kontinuität, sie ist das wohltuend Bleibende im Wechsel des elektronischen Unterhaltungsfirlefanzes…“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

„… Soll man sich ärgern, dass die Einschaltquoten nicht die Höhen von’Dallas’ erreicht haben? Die Serie hat wochenlang eine feste Zuschauergemeinde erlebt, und Reitz, der Serienskeptiker, hat mit den Mitteln des Genres so souverän gespielt, sie so sicher eingesetzt, als habe er allen amerikanischen TV-Routiniers eine grandiose Retourkutsche übern großen Teich schicken wollen…“ (Brigitte Söhngen, Rheinische Post)

Hintergrundinfos zu „Heimat“:
Drehzeit: 40.4.1981-31.10.1982 = 282 Drehtage / 54 Mitarbeiter / 32 Schauspieler / 159 Laiendarsteller / 3863 Komparsen / Schreibarbeit am Drehbuch: Steinbach/Reitz 1979-80 / 7 Monate Drehvorberei-tung / 1,5 Jahre Dreharbeiten / 1 Jahr Schnitt / halbes Jahr Fertigstellung / Gesamtherstellungszeit: 5 Jahre

Heimat – Eine deutsche ChronikFoto: Arte / Edgar Reitz Filmproduktion
Lotti bringt Maria (Marita Breuer) & Pauline (Bayerwaltes) frischen Bohnenkaffee und kündigt die Rückkehr von Paul Simon an.

Die Inhaltsangaben der letzten vier Episoden (Quelle: Arte):

(4): Auf und davon und zurück / Heimatfront (1938-1943)
Das Liebesglück von Maria und dem Ingenieur Otto wird durch einen Brief des verschollenen Paul aus Amerika zerstört. Die Ankündigung seiner Rückkehr versetzt die ganze Familie Simon in Aufruhr. Maria und ihr Sohn Anton warten im August 1939 im Hamburger Hafen auf ihn, doch dann darf Paul das Schiff nicht verlassen, da er keinen Arier-Nachweis hat. Der Krieg bricht aus und verändert das Leben in der Stadt und auf dem Land. 1941 wird Anton, während er in Russland ist, mit seiner hochschwangeren Martha vermählt. Otto erfährt bei einem Sprengkommando von Ernst, dass er einen vierjährigen Sohn, Hermann, mit Maria hat.

(5): Die Liebe der Soldaten / Der Amerikaner (1944-1947)
Otto Wohlleben ist in Schabbach auf Durchreise und sieht zum ersten Mal seinen Sohn Hermann. Otto und Maria finden ihre alte Vertrautheit wieder, doch am nächsten Tag kommt Otto bei einer Bombenentschärfung ums Leben. Während des Einmarsches der Amerikaner stirbt der alte Mathias. Während die Anwesenheit der Besatzungssoldaten 1946 längst Normalität geworden ist, sorgt die Rückkehr eines Amerikaners für große Aufregung: Paul hält mit Limousine im Dorf Einzug. Kurz nach der Rückkehr Antons aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft stirbt die Oma Katharina. Der von Maria zurückgewiesene Amerika-Rückkehrer Paul reist noch vor der Beerdigung ab.

(6): Hermännchen (1955-1956)
Während Antons Optik-Firma floriert, geht Ernsts Firma und damit seine Ehe mit der Tochter eines reichen Holzhändlers in die Brüche. Für Maria ist ihr jüngster Sohn, das Hermännchen, alles, was ihr bleibt. Sie setzt große Hoffnungen in ihn. Hermännchen begeistert sich für Musik und Dichtung. Er verliebt sich in Klärchen, die elf Jahre älter ist. Als sie schwanger wird, flieht sie aus dem Dorf und die geheim gehaltene Beziehung wird bekannt. Maria ist schwer getroffen, woraufhin sich Hermann zunehmend von Dorf und Familie isoliert.

(7): Die stolzen Jahre / Das Fest der Lebenden und der Toten (1967-1982)
Ein US-Konzern will Antons Fabrik aufkaufen. Im Gegensatz zu seinem Vater Paul, der sein Unternehmen in den USA verkauft hat, beschließt Anton, aus Verbundenheit zu seinem Werk und den Arbeitern die Firma zu behalten. Hermännchen arbeitet mit seinem Stiefvater Paul an seinem ersten öffentlichen Konzert. Maria, von den elektronischen Klängen irritiert, fühlt sich ihrem Sohn so fremd wie noch nie. Die Beerdigung Marias führt 1982 noch einmal die ganze Verwandtschaft zusammen. Am Abend wird die Dorfkirmes gefeiert. Hermann komponiert, von Kindheitserinnerungen bewegt, Chorgesänge im Hunsrücker Dialekt.

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rbb, WDR

Mit Marita Breuer, Dieter Schaad, Michael Lesch, Rüdiger Weigang, Eva Maria Bayerswaltes, Karin Rasenack, Michael Kausch, Peter Harting, Jörg Richter, Jörg Hube, Gudrun Landgrebe

Kamera: Gernot Roll

Ausstattung: Franz Bauer

Kostüme: Reinhild Paul, Ute Schwippert, Regine Bätz

Schnitt: Heidi Handorf

Musik: Nikos Mamangakis

Produktionsfirma: Edgar Reitz Filmproduktion, Westdeutscher Rundfunk, SFB

Drehbuch: Peter Steinbach, Edgar Reitz

Regie: Edgar Reitz

EA: 18.09.1984 20:15 Uhr | ARD

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