Selten so eine traurige Hochzeit gesehen: Gäste sind praktisch keine eingeladen, der Lieblingsbruder kommt zu spät und dann sorgt auch noch ein Alarm für Panik bei der Braut. Während in der großen Villa die Sirene losheult, die Rollläden automatisch herunterfahren und sich gespenstisches rotes Licht ausbreitet, wird Emily (Sarah Mahita) von einer Angstattacke heimgesucht. Als Kind war sie entführt und vor der Übergabe des Lösegelds stundenlang in eine Kiste gesperrt worden. Regisseur Alain Gsponer („Wolke unterm Dach“, „Jugend ohne Gott“) erinnert bei seinem Serien-Debüt ab und zu in kurzen Rückblenden an das zwei Jahrzehnte zurückliegende Drama. Es beeinflusst das gesamte Familienleben und das Verhältnis aller im Hause Schwarz bis heute. Emily stand nach der Entführung im Mittelpunkt der Fürsorge der Eltern und traut sich noch immer nicht allein aus dem videoüberwachten, mit einem stählernen Tor gesicherten Anwesen. Nach der Hochzeit will sie mit Bräutigam Chris (Aram Arami) in eine gemeinsame Wohnung in der Stadt ziehen. Es wäre der Schritt hinaus aus dem goldenen Familien-Käfig, den sie sonst nur mit blonder Perücke getarnt im Netz wagt: als Astro-Influencerin „Milli*Star“.
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Die Spannungen in der Familie sind von Beginn an greifbar. Bei Emilys älteren Geschwistern, die sich von den Eltern weniger beachtet und geliebt fühlen, sorgt das Familien-Wiedersehen dafür, dass alte Rollenmuster sichtbar werden und neue Konflikte ausbrechen. Dabei hat Head-Autorin und Grimme-Preisträgerin Esther Bernstorff („Ein Teil von uns“) ein breit gefächertes Panorama an persönlichen Dramen entworfen. Impulsiv und dominant spielt Stefanie Reinsperger die älteste Tochter Eva, die im Familienbetrieb arbeitet und mit der Galeristin Bahar (Lara Chedraoui) liiert ist. Der gemeinsame Wunsch nach einem eigenen Kind scheint sich zu erfüllen, als Eva nach einer künstlichen Befruchtung schwanger wird. Während die laute Eva ihr Herz auf der Zunge trägt und Konflikte gerne zuspitzt, ist Leo (Morgane Ferru), die zweitälteste Tochter und Mutter eines etwa zehn- bis zwölfjährigen Jungen, stets um Ausgleich und gute Laune bemüht. Das Weglächeln aller Probleme geht selbstredend nicht lange gut. Leo ist frisch getrennt und tröstet sich über den Verlust an Liebe und sexueller Befriedigung mit der Suche nach schnellem Ersatz hinweg. Verhängnisvoll ist allerdings, dass sie ihre Unruhe und Schlaflosigkeit auch mit einer Unmenge an Tabletten bekämpft, was ihrem Sohn Linus (Carl Anton Koch) nicht verborgen bleibt.
Als zerrissene und labile Persönlichkeit erweist sich auch der Vierte im Geschwisterkreis: Felix (Merlin Rose) wird, obwohl er die letzten Jahre fernab der Familie in Kanada gelebt hat, sofort wieder von Emily vereinnahmt, die zu ihm ein besonders inniges Verhältnis hat. Wenn sie eine Panikattacke hat, kann sie nur von Felix beruhigt werden. Doch der große Bruder hat längst eine Frau und ein Kind in Kanada, wovon er der Familie allerdings nichts erzählt hat. Nun gerät er wieder in die Rollenmuster, vor denen er vermutlich geflohen ist: die des Sohnes, von dem Vater Richard (Götz Schubert) enttäuscht ist, und die des großen Bruders, der aus Schuldgefühlen gegenüber Emily nicht Nein sagen kann. Denn als die Täter die kleine Schwester kidnappten, sollte er eigentlich auf sie aufpassen. In der alten Heimat kämpft Felix nun wieder mit seiner überwunden geglaubten Alkoholsucht. Außerdem hat er allen Grund, sich bei seiner Ex-Freundin und seinem ehemaligen besten Freund zu entschuldigen.
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Für Konfliktstoff sorgt außerdem die finanziell schwierige Lage des Familien-Unternehmens. Richard Schwarz hat seinen frisch angetrauten Schwiegersohn Chris als Nachfolger auserkoren, der die Gießerei „völlig neu aufstellen“ soll. Zur stets dürftigen Kommunikation innerhalb der Familie passt es, dass Richard seine in der Firma längst etablierte Tochter Eva darüber nicht vorab in einem Vier-Augen-Gespräch informiert. Lieber stößt er gleich alle Kinder gemeinsam vor den Kopf, indem er sie auffordert, auf ihren Pflichtanteil zu verzichten. Und als Felix seine Zustimmung verweigert, weil er im Gegenteil Geld für den Erwerb seiner Traumfarm in Kanada braucht, schimpft Richard: „Verwöhntes Pack!“ Die Sache erledigt sich dann allerdings auf dramatische Weise von selbst, denn auf der Hochzeitsreise mit Emily verschwindet Chris plötzlich spurlos aus dem Zug. Noch eine Entführung? Die Ungewissheit sorgt eine Zeit lang für erhöhte Spannung, Richard holt seinen langjährigen Sicherheitsberater Hanno (Samir Fuchs) ins Haus.
Und was ist mit der Mutter? Auch Barbara Schwarz (Juliane Köhler) taugt nicht zur Sympathieträgerin und wirkt innerhalb der Familie bisweilen wie eine Außenseiterin. Ihr Traum, eine erfolgreiche Künstlerin zu werden, hat sich nicht erfüllt. Aber in ihr Atelier, das sie sich in der Villa einrichten konnte, zieht sie sich immer noch gerne zurück. Um die Geschäfte kümmert sie sich gar nicht, und zu den Kindern besteht auch kein übermäßig herzlicher Kontakt. Emilys Entführung empfand sie als „Strafe für meine Gedanken“, wie Barbara einmal sagt. In dieser Serie sind alle schwer mit sich selbst beschäftigt und kreisen um die eigenen Probleme. Auch der Sex ist eine eher traurige Angelegenheit. Immerhin tauschen Barbara und Richard im Liebesspiel mal die Rollen. Barbara verwandelt sich in eine strenge Domina, während der sture Patriarch zum Befehlsempfänger wird.
Foto: WDR / Michel Vertongen
Bernstorff & Gsponer nehmen diese verkorkste Familie fünf Folgen lang präzise auseinander und biedern sich mit leichtem Krimi-Touch und einem maßvollen Happy End auch nur bedingt beim Publikum an. Das Milieu schafft ohnehin maximale Distanz, auch wenn das Anwesen als Kontrast zur familiären Einöde seinen visuellen Reiz hat. Ein Hauch Humor hätte dem bisweilen anstrengenden Familien-Jammer ab und zu auch nicht geschadet. So fällt es nicht schwer, sich diese sperrigen Typen vom Leib zu halten. Am Ende löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, aber in dem ein oder anderen Konflikt keimt doch Hoffnung auf: Weil die Familie beginnt, die Sprach- und Empathielosigkeit zu überwinden. Damit sendet die teils in Belgien gedrehte und finanzierte Serie „Haus aus Glas“ jedenfalls eine allgemeingültige Botschaft, die über den Allgemeinplatz („Geld allein macht nicht glücklich“) hinausreicht.