Gesicht der Erinnerung

Verena Altenberger, Schuster, Baumgarten, Dominik Graf. Zufall? Vorsehung? Reinkarnation?

Foto: SWR / Jacqueline Krause-Burberg
Foto Rainer Tittelbach

Als Teenager verliebte sich Christina in einen verheirateten Mann, von dem sie bis heute nicht losgekommen ist, und das nicht nur, weil sie sich noch immer die Schuld gibt an seinem Tod. Erst jetzt kriegt sie die Chance, sich noch einmal „richtig“ zu verlieben. Aber liebt sie den 20jährigen Patrick überhaupt? Oder sieht sie in ihm nur den ersten geliebten Menschen? Autor Norbert Baumgarten und Regisseur Dominik Graf geben in „Gesicht der Erinnerung“ (SWR / Lailaps) dem Zuschauer keine eindeutigen Erklärungen. Zwischen Schizophrenie und Seelenwanderung erstreckt sich die Palette der Möglichkeiten. Den Zuschauer*innen aber sei geraten, sich nicht vorschnell auf eine Erklärung festzulegen. So würde einem eine wundersame Liebesgeschichte entgehen, wundersam nicht im Sinne des Gefühlskinos à la Hollywood, sondern so wie es der Regisseur versteht: geheimnisvoll, rätselhaft, ein Stück weit unerklärlich, ja, übernatürlich. „Gesicht der Erinnerung“ erzählt die Geschichte einer sehr speziellen, problematischen Liebe. Graf erzählt sie entsprechend eigenwillig, anfangs höchst assoziativ und radikal. Bildgestaltung, Montage und Score sind herausragend, und Verena Altenberger bekräftigt ihre Ausnahmestellung im deutschsprachigen Film.

Zwanzig Jahre eine einzige Kreisbewegung. So sieht es für Außenstehende aus: das Leben von Christina (Verena Altenberger). Als Teenager (Judith Altenberger) verliebte sie sich in einen verheirateten Mann (Florian Stetter), von dem sie nie losgekommen ist, und das nicht nur, weil sie sich noch immer die Schuld gibt an seinem Tod. Erst jetzt bekommt sie eine zweite Chance, sich noch einmal „richtig“ zu verlieben. Ein junger Mann namens Patrick (Alessandro Schuster) tritt in ihr Leben, zunächst nur als Helfender: Christina stand mal wieder neben sich, brach in einem Club zusammen, irrte durch den Regen – bis er sich ihrer annahm. „Ich hab‘ das Gefühl, als ob ich ein anderes Bewusstsein hätte, ein fremdes, nicht meines“, erzählt sie später ihrem Psychotherapeuten (Tyron Ricketts). „Werde ich schizophren?“, fragt sie. An dem 20jährigen Jüngling, ein Musiker aus wohlhabendem, liberalem Elternhaus, ist sie anfangs nicht interessiert. Der aber bleibt hartnäckig, bringt ihr ein romantisches Ständchen, kommt aber erst mal nicht weiter als auf die Liege ihrer Physiotherapiepraxis. Das ändert sich, als sie ihm von Jacob erzählt, eher zufällig, beiläufig. Dass der Mann auf dem Foto ihr Lebensmensch ist, verrät sie nicht. „Ich kenn den irgendwoher. Ich habe den schon mal gesehen“, ist sich Patrick sicher. Als sich dann herausstellt, dass er in dem Ort gelebt hat, in dessen Nähe Jacob verunglückt ist und dass Patrick nur wenige Tage nach dem Unfall eben dort geboren wurde, ist es auch um Christina geschehen.

Gesicht der ErinnerungFoto: SWR / Jacqueline Krause-Burberg
Liebt Christina (Verena Altenberger) den 20jährigen Patrick (Alessandro Schuster) überhaupt? „Was wäre, wenn der Mensch, den man liebt, immer derselbe ist?“, fragt sie ihren Therapeuten. Von „Übertragung“ und Einbildungskraft will sie nichts hören.

Kann so etwas Zufall sein? Schicksal? Vorsehung? Oder ist es gar ein Fall von Reinkarnation? Autor Norbert Baumgarten („Mensch Kotschie“) und Regisseur Dominik Graf, neunfacher Grimme-Preisträger, geben in „Gesicht der Erinnerung“ dem Zuschauer keine eindeutigen Erklärungen. „Ich glaube, alles wiederholt sich“, sagt Christina in der Therapie. „Was wäre, wenn der Mensch, den man liebt, immer derselbe ist?“, fragt sie ihren verdutzten Psychologen. Der spricht von den immergleichen Mustern, denen man gerne folgt, kommt mit „Übertragung“ und mit menschlicher Wahrnehmung – also Einbildung. Das ist nicht das, was Christina hören will. Und so hat für sie der Therapeut seine Schuldigkeit getan, auch die von ihm verschriebenen Pillen spült sie im Klo runter. Grenzen die Macher die Psychologie aus, weil es für die Geschichte besser ist? Erklärungsmodelle dieser Art stören ja für gewöhnlich nicht nur die Poesie und Magie einer Filmerzählung, sondern sie beeinträchtigen auch die Phantasie des Zuschauers, die Lust am (Be-)Denken und Spekulieren. Im Film scheuen Baumgarten und Graf die Erklärungsmuster der Seelen(heil)kunde. Das heißt aber nicht, dass sie am Ende nicht vielleicht doch wieder an Bedeutung gewinnen können. Christina allerdings von vornherein als tendenziell schizophren abzutun, um sich die Geschichte jenseits von einem Phänomen wie Seelenwanderung zu erklären, davor sei gewarnt.

Gesicht der ErinnerungFoto: SWR / Jacqueline Krause-Burberg
Besetzungstechnischer Coup: Die 16jährige Christina wird von Verena Altenbergers jüngerer Schwester Judith Altenberger verkörpert. Den Jakob spielt Florian Stetter.

Gewarnt im eigenen Interesse. Denn so würde einem eine wundersame Liebesgeschichte entgehen, zauberhaft nicht im Sinne des Gefühlskinos à la Hollywood, sondern so wie es Dominik Graf versteht: geheimnisvoll, rätselhaft, ein Stück weit unerklärlich, ja, übernatürlich. So ein bisschen kennt man diesen Zauber ja bereits aus „Die Freunde der Freunde“ (2002) oder „Die geliebten Schwestern“ (2014), zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Filme über die Liebe in einer übersinnlichen Spielart. „Gesicht der Erinnerung“ taucht erst einmal tief ab ins Bewusstsein der Hauptfigur. Die ersten fünfzehn Minuten des Films sind ein wilder Ritt durch die Psyche der angeschlagenen Trauma-Patientin, die Visionen zu haben scheint. Der Zuschauer bekommt ein Bild davon, wie diese schöne Frau tickt. „Manchmal habe ich Angst, dass ich ein anderes Gesicht im Spiegel seh‘“. Von Jacob und der tragischen Vorgeschichte weiß man noch nichts. In der rastlosen Montage bekommt man ihn allerdings zu sehen. So wie überhaupt alles, was für die Geschichte wichtig war, ist und sein wird. Was sich allerdings erst retrospektiv erkennen lässt. Zunächst vermittelt diese exzessive Exposition vor allem eines: Diese Christina ist ein komplizierter Mensch. Und so wie die Zeiten, die Bilder, das Erinnerte miteinander verschwimmen, so verschmelzen später die beiden Männer zu einem Liebesobjekt. Die (Seh-) Erfahrung ist so intensiv, dass man als Zuschauer schon fast an Seelenwanderung glauben möchte. Auch im Interesse der zwischen Leid und Lust so schwer gebeutelten Hauptfigur.

Gesicht der ErinnerungFoto: SWR / Jacqueline Krause-Burberg
Erst nach und nach macht Christina (Verena Altenberger) ihre aktuelle Liebe, Patrick (Alessandro Schuster), mit ihrer traumatischen Vergangenheit vertraut. Dem 20-Jährigen wird es spätestens dann zu viel, als er „Vertigo“-like umgemodelt wird.

„Ich denke nicht, nie, ich fühle nur!“, schreit Christina Patrick an, als ihm ihre „Projektions-Spielchen“ zu viel werden. Sie wünscht sich von ihm, dass er einen Anzug anzieht. „Der Jacob hat oft so einen angehabt“, sagt sie, ohne sich dabei – siehe oben – viel zu denken. Das gibt wiederum dem jungen Mann zu denken: „Das ist unheimlich. Ich bin nicht Jacob!“ Wird er überhaupt noch seiner selbst wegen geliebt? Patrick zweifelt, hat ein Urteil über seine Noch-Freundin getroffen („Sie ist nur leider verrückt“), gibt dann allerdings doch nach, und Christina flippt geradezu aus vor Freude. Das Motiv, sich den Partner nach dem Vorbild eines anderen geliebten Menschen zurecht zu modeln, erinnert an Hitchcocks „Vertigo“. Auch Christinas Obsession findet erstmal kein glückliches Ende: „Jacob hat dunklere Haare“, sagt sie. Das wird dem jungen Mann dann doch zu viel – woraufhin dieser erst einmal Entspannung sucht bei der gleichaltrigen Eva (Julia Stammler), die so angenehm „normal“ verrückt nach ihm ist. Doch Patrick wird Christina wieder suchen, nachdem seine frühere Kinderfrau (Lena Baader) ihm die Augen für etwas Vergessenes, vielleicht Verdrängtes geöffnet hat.

„Gesicht der Erinnerung“ erzählt eine Liebesgeschichte. Es ist eine sehr spezielle, problematische Liebe. Sie nach den Regeln des Genres zu erzählen, das kann für einen Regisseur wie Dominik Graf nicht in Frage kommen, erst recht nicht bei einer Liebe, die von – nennen wir es – seelischen Störungen begleitet wird. Anfangs ist es vor allem die innere Zerrissenheit der Hauptfigur, die den Erzählrhythmus vorgibt. Dabei bekräftigt Verena Altenberger ihre derzeitige Ausnahmestellung im deutschsprachigen Fernsehen. Sie schmeißt sich regelrecht rein in ihre Rolle, musste Haare lassen (weshalb auch bei ihrer „Polizeiruf“-Kommissarin die Locken fielen), sie brüllt, sie redet wie man redet im normalen Leben, macht Pausen, ihre Christina verspricht sich, sie redet mit Händen und Füßen, entsprechend glaubwürdig vermitteln sich ihre Gefühle, die große Verletzlichkeit, der Schmerz. Gespielt wirkt hier nichts. Ein Glücksfall ist es auch, dass die Schauspielerin eine jüngere Schwester hat, Judith Altenberger, die mit wallendem Haar die Rolle der 16jährigen Christina übernommen hat. Filmisch überzeugen neben der bereits erwähnten Montage (Claudia Wolscht) vor allem auch die Bildgestaltung von Hendrik A. Kley, der sich nie mit einer einfachen (Auf-)Lösung zufriedengibt, und der jazzig schräg dynamische Score (Sven Rossenbach & Florian van Volxem). Die sprunghafte Filmsprache, die ganz nach Christinas Lebensmotto verfährt, „Ich denke nicht, nie, ich fühle nur!“, spiegelt dabei ihre Unberechenbarkeit und das Suchende, das Offene, das Aufregende der Narration wider.

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Fernsehfilm

ORF, SWR

Mit Verena Altenberger, Alessandro Schuster, Florian Stetter, Judith Altenberger, Julia Stammler, Maria Preis, Frederic Linkemann, Barbara Romaner, Michael Rotschopf, Lena Baader, Tyrone Ricketts

Kamera: Hendrik A. Kley

Szenenbild: Claus Jürgen Pfeiffer

Kostüm: Martina Müller

Schnitt: Claudia Wolscht

Musik: Sven Rossenbach, Florian van Volxem

Redaktion: Brigitte Dithard (SWR), Klaus Lintschinger (ORF)

Produktionsfirma: Lailaps Films

Produktion: Nils Dünker

Drehbuch: Norbert Baumgarten

Regie: Dominik Graf

Quote: 2,04 Mio. Zuschauer (7,8% MA)

EA: 08.02.2023 20:15 Uhr | ARD

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