Der Astrologie-gläubige Hamburger Kürschner-Meister Raik Doormann (Oliver Masucci) ist mal wieder in Geldnöten. Der Mann, der die Pelze liebt und die Frauen hasst, ist verheiratet, hat ein Kind und ist als freundlicher Nachbar bekannt, aber er kann auch anders. 1991 entführt er Elke Berger (Valentina Sauca), die neue Frau an der Seite seines ehemaligen Chefs Ludwig Lübke (Sylvester Groth), und hält sie in einem unterirdischen Bunker gefangen, den er sich im Keller seines Hauses gebaut hat. 300.000 DM will er von Lübke erpressen, doch nach einer Woche lässt er seine Geisel wieder frei, er fährt sie sogar vor ein Polizeirevier. Der anschließende Prozess, in dem er sich als leutseliger, unbescholtener Familienvater inszeniert, wird für Elke Berger zur Tortur, weil Doormann behauptet, sie sei seine Komplizin gewesen und sie habe die Erpressung geplant. Das Urteil fällt entsprechend mild aus: Der Richter verurteilt ihn zu drei Jahren Haft mit der Begründung: „Von dem Angeklagten geht keinerlei Gefahr für die Allgemeinheit aus.“ Ein grandioser Trugschluss. Oder sollte aus dem Mörder von Cornelia Kessler (Nikola Kastner), einer guten Bekannten von ihm, und der ersten Frau seines verhassten Chefs (Marita Marschall) ein zahnloser Tiger geworden sein?
Raik Doormann heißt im wahren Leben Lutz Reinstrom und ist als „der Säurefassmörder von Hamburg“ in die Annalen der deutschen Kriminalgeschichte eingegangen. Die Serie „Gefesselt“, die unter dem Label „German True Crime“ bei Amazon Prime zu sehen ist, erzählt davon, weshalb die Morde von 1986 und 1988 zunächst unentdeckt bleiben konnten. Die Headautoren, der zweifache Grimme-Preisträger Michael Proehl („Tatort – Im Schmerz geboren“, „Das weiße Kaninchen“) und Dirk Morgenstern, stellen dem Menschenfänger eine junge Kommissarin gegenüber: Nela Langenbeck (Angelina Häntsch), in den eigenen – auschließlich männlichen – Reihen wegen ihrer Mordtheorien bestenfalls belächelt, entwickelt sich zu einer ernstzunehmenden Gegenspielerin. Allein ihrem Engagement und ihrer Beharrlichkeit ist es zu verdanken, dass eine Soko ins Leben gerufen wird, bei der sie allerdings zunächst nur fürs Kaffeekochen zuständig ist. Damit erstreckt sich der Geschlechterkampf, der in Doormanns krankhaftem Männer-Frauen-Bild bestialisch gipfelt, gleichermaßen auf die Ermittlungsebene. Und Frauenverachtung ist eine stimmungsmachende Verteidigerstrategie im Gerichtssaal, die später auch der In-die-Enge-Getriebene in einem Akt zwanghafter Selbstüberschätzung gegen seinen weiblichen Jäger anwendet. Mal teilt er plump aus („Ist Frausein eigentlich so ein bisschen wie Behindert-Sein?“); mal versucht er, sie mit Worten zu verführen, gibt den Nela-Versteher („dieser Sehnsuchtsblick“).
Oliver Masucci verkörpert diesen passionierten Manipulator und ist – nach preisgekrönten „Verkörperungen“ von Hitler bis Fassbinder – einmal mehr als ein Ereignis. Mal säuselnd verführerisch, mal mit Fisteln in der Stimme, mal mit deutlich hanseatischem Zungenschlag und immer wieder kumpelhaft jovial daherredend wie ein Mann, der den Applaus anderer Frauenfeinde sucht und kleine Schwächen zugibt, beispielsweise seine sadomasochistischen Neigungen, um von seinen grausamen Morden abzulenken. Auf alles hat er eine Antwort. Doormann berauscht sich geradezu an seinen frei erfundenen Geschichten. Ihnen nachzugehen, sie zu widerlegen kostet Zeit. Die Verhöre drohen auf der Zielgeraden, im Nebel seiner Behauptungen zu versinken. Eine erklärende Psycho-Analyse dieses Charakters erfolgt in der Handlung erfreulicherweise kaum. Raik Doormann alias Lutz Reinstrom ist kein Triebtäter, kein psychopathischer Frauenmörder, kein Serienkiller. Er kenne keine Empathie, er imitiere allenfalls soziales Verhalten, Macht und Geld sind seine Antriebe, konstatiert seine Gegenspielerin. Was er sonst noch ist, welche Persönlichkeitsstörung sich bei ihm manifestieren könnte, davon kann sich der Zuschauer selbst ein Bild machen. Masuccis Angebote sind reichhaltig. Beliebt nicht erst im Trump-Zeitalter ist der Typus Narzisst, der sich seine eigene Wahrheit zurechtlügt und sich sonnt in der Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird. In der letzten Folge sieht man, dass massive Kränkungen den mörderischen Exzessen vorausgingen. Für Mitleid beim Zuschauer sorgt das nicht; längst hat Doormann den Kredit verspielt, den Hauptfiguren in Filmen beim Zuschauer für gewöhnlich genießen.
Dieser Charakter ist Faszinationsgestalt und Würstchen zugleich. Es ist wohl eher die Präsenz und das Spiel von Oliver Masucci, die einen in den Bann ziehen. Das Verhalten der Figur indes, die abgefeimten Lügen, die egozentrischen Ausreden, das alles ist dreist und perfide, und seine Taten sind barbarisch. Dieser Mann ist ein Monster, er muss überführt werden und die Höchststrafe bekommen. Das sagt die Geschichte, das sagen aber auch die Worte und die Bilder. Vielleicht hätte Grimme-Preisträger Florian Schwarz („Tatort – Im Schmerz geboren“) auf ein, zwei der Foltereinstellungen verzichten können, prinzipiell aber sind sie notwendig bei diesem narrativen Konzept, das sich vom reduzierten, dokumentarisch anmutenden True-Crime-Prinzip, mit dem einst Breinersdorfer/Schadewald („Der Hammermörder“ / „Angst“) Fernsehgeschichte schrieben, deutlich abhebt. Das Grauenvolle muss man sehen, diese gefesselten, leblos im Bunker hängenden Körper, weil das Böse in Kombination mit dem großartigen Masucci sich sonst möglicherweise hinter der raffinierten Maske eines kleinbürgerlichen Filous verstecken könnte. Auch die Ekelbilder müssen sein; nicht nur, weil es sich hier um den legendären „Säurefass-Mörder“ handelt, sondern weil dieser Ekel zu Doormanns Taten gehört, weil sie die physische sinnliche Gewissheit dafür sind, was aus den beiden Frauen geworden ist, und weil dieser Ekel auf die Hauptfigur zurückschlägt, die so am Ende ihr „Faszinationspotenzial“ gänzlich verliert.
Dramaturgisch macht „Gefesselt“ alles richtig. Mit dem vergleichsweise harmlosen Verbrechen 1991 beginnt der Film. Die erste Szene führt das Publikum allerdings gleich ins Badezimmer. Säure und Säge sind des Pudels Kern, verraten bereits die ersten Bilder. Dennoch oder gerade deshalb gelingt es den Machern, über sechs Folgen und viereinhalb Stunden den Zuschauer zu fesseln. Der Ausgang ist bekannt, die Neugier konzentriert sich also auf den Gang der Handlung. Das Zuschauer-Mehrwissen sorgt allerdings gelegentlich auch für Wut-Momente: Wenn die Gegenspielerin von ihren männlichen Chauvi-Kollegen infam ausgebremst wird. Und auch allerhand Subtexte sind klug und beiläufig in die Narration eingewoben. So geht mit dem Niedergang des Kürschner-Handwerks für Doormann auch ein Stück der „guten alten“ Männlichkeit verloren. Auch die von Doormann immer wieder beschworene Erotik der Pelze verfängt nicht mehr. Dieser Mann ist ein Auslaufmodell. „Verdient jetzt nur noch die Mama das Geld?“, fragt der Sohn in der ersten Folge. Die Reaktion kommt prompt: Wenig später hängt Elke Berger am Haken – und Doormann hofft auf die große Kohle. Und die Frau, die er sich zuletzt als Partnerin ausgesucht hat, ist eine Prostituierte (Nina Gnädig), mit der er die Flucht nach Costa Rica plant. Das ist gewiss kein Zufall. Macht, Geld und Sex sind nun mal sein Lebenselixier. (Text-Stand: 3.1.2023)