Die Geschichte des Fernsehfilms „Gefangen – Der Fall K.“ basiert auf wahren Begebenheiten. Das, was dem von Jan Josef Liefers gespielten Wastl Kronach in den 90 Spielfilmminuten widerfährt, zeichnet einen Teil der Leidensgeschichte von Gustl Mollath nach, dem wohl prominentesten deutschen Justizopfer der letzten zwei Jahrzehnte. Ein Mann, der durch das Betreiben seiner ehemaligen Frau in die Mühlen von Politik und Justiz, von Bankwesen und Psychiatrie geraten ist. Und das über Jahre: 2717 Tage verbrachte er in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt. 2006 wurde er eingewiesen. 2011 gab es Zweifel an der „paranoiden Problematik“ Mollaths und seiner von psychiatrischen Gutachtern ferndiagnostizierten „Fremdgefährlichkeit“; aber auch die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens wurde infrage gestellt. Die Medien machten Druck, der Fall bekam große Öffentlichkeit über die Grenzen Bayerns hinaus. Der gebürtige Nürnberger kam 2013 auf freien Fuß, bevor er in einem Wiederaufnahmeverfahren ein Jahr später freigesprochen wurde. Über den Skandal und das Einzelschicksal hinaus löste der Fall Mollath eine öffentliche Debatte über die Unterbringung in psychiatrischen Kliniken aus, die in einer Gesetzesreform ihren Niederschlag fand.
Foto: ZDF / Jürgen Olczyk
Der Film von Hans Steinbichler schildert ausführlich die privaten und juristischen Vorgänge vor der Einweisung. Erzählt wird von den glücklichen Jahren mit seiner Frau Elke: „Du bist mein King. Ich liebe dich“, schreit die von Julia Koschitz gewohnt attraktiv verkörperte Vermögensberaterin in der ersten gemeinsamen Szene in die Bergwelt hinaus, während das Paar in einem Porsche-Cabrio auf der Überholspur die Alpen passiert. Noch ist es seine Welt, die Welt der schnellen, coolen Autos: Kronach ist ein gefragter Restaurator für Oldtimer. Doch die Geschäftsreise in die Schweiz sorgt für die erste Missstimmung. „Die bringen dir bei, wie man kriminell wird“, schimpft Kronach, der selbst nicht mal ein Auto ohne Rechnung reparieren würde. Die Schwarzgeld-Transfers seiner Frau, teilweise an der eigenen Bank vorbei, sind ihm zuwider. Als einer dieser feinen Herren aus der Schweiz, ein Waffenhändler noch dazu, der werten Gemahlin „für nichts“ 500.000 Euro „vererbt“, findet die schleichende Entfremdung der Ehepartner ihren krachenden Höhepunkt: ein heftiger Streit, ein Wort gibt das nächste, „du bist einfach nur ein eifersüchtiger, erbärmlicher Loser“, schreit sie ihn an. Was sich daraufhin ereignet, zeigt der Film nicht, da dies im Fall Mollath nicht eindeutig belegt ist; da stehen Aussage gegen Aussage. Nachdem der Mann bestreitet, seine Frau geschlagen und gewürgt zu haben, sagt er im Prozess: „Sie ist auf mich losgegangen, und ich habe mich verteidigt.“ Wie dem auch sei, die Ehe ist zerrüttet, es dauert nicht lange und Elke zieht aus. Jetzt beginnt die Phase der schriftlichen Anzeigen. Kronach, der stapelweise Material zum Fehlverhalten (Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Verdunkelung, Nötigung etc.) seiner Frau, ihrer Kunden und der Banken gesammelt hat, ist in seinem Element. Doch er isoliert sich zunehmend, wittert überall nur Gegner und lässt sich selbst von seinem besten Freund (Thomas Huber) nichts sagen. Kronachs Eifer ist nicht hilfreich. Die Anzeigen laufen ins Leere. Denn nachdem seine Frau seinen Geistesgegenstand angezweifelt hat, wertet das Gericht die Maßlosigkeit in Kronachs Beweisführung als Anzeichen für seine Verrücktheit.
Foto: ZDF / Jürgen Olczyk
Man kann geteilter Meinung sein über Wastl Mollath und in Maßen auch über Wastl Kronach, seinen Weltverbesserungseifer, seine Sturheit, die sein Schicksal mit heraufbeschworen hat (mit seiner Weigerung, sich von Psychiatern untersuchen oder sich anfangs von einem Anwalt verteidigen zu lassen) und seine möglichen „Ausraster“ gegenüber seiner Frau. Ziemlich unbestritten ist dagegen der nachlässige bis unrechtmäßige Umgang staatlicher Behörden mit ihm: Das Finanzamt ging seinen Anzeigen nicht nach, und das Gericht stempelte ihn vorschnell als Querulanten ab, ließ im Prozess wegen Körperverletzung das Thema Steuervorwürfe nicht zu, schenkte einseitig der Klägerin Gehör und ließ ihn auf ihr Anraten, auf seinen Geisteszustand untersuchen. Und die psychiatrischen Gerichtsgutachter stellten Ferndiagnosen, schrieben voneinander ab und müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sich von den Gerichten instrumentalisieren zu lassen. Erwiesen ist auch die Richtigkeit der Schwarzgeldverschiebungen, die Mollath zur Anzeige brachte. Da aber die betreffende bayerische Bank sich über ihr Revisionsergebnis ausschwieg und sich stattdessen mit der gekündigten und wieder eingestellten Ex-Frau einvernehmlich geeinigt hatte, war Kronach am Ende das Bauernopfer. Aus dieser Gemengelage heraus ist es nur logisch, dass sich Steinbichler faktisch stärker auf die gesellschaftspolitischen Implikationen des Falls eingelassen hat, während die persönliche Ebene, die Zeit nach der Entlassung aus der forensisch-psychiatrischen Klinik ausgeblendet bleibt. Auch wenn man so die Themenfelder noch einmal hätte verdichten können, war dies letztlich sinnvoll, da diesen Teil der Mollath-Vita im 2015 erschienenen Dokumentarfilm, dem 90minütigen Porträt „Mollath – und plötzlich bist du verrückt“, ausführlich reflektiert wird. Auch die wichtige Rolle der Medien, die Steinbichler sehr konzentriert in einer TV-Reportage im Film bündelt, behandelt der Dokumentarfilm sehr ausführlich. Dadurch kommt man nicht in Versuchung, die beiden Filme gegeneinander auszuspielen. So informativ, reich an Stimmen, vorbildlich offen in seiner Bewertung der Film von Leonie Stade und Annika Blendl auch ist – als ein Stück gespiegelte Zeitgeschichte macht er den Spielfilm nicht überflüssig; die Filme ergänzen sich vielmehr.
Foto: ZDF / Jürgen Olczyk
Was der ZDF-Fernsehfilm, ko-produziert mit Arte, von der persönlichen Geschichte einbringt, ist das Emotionale, das sich in jeder Phase offen zeigt, obgleich die Inszenierung in der ersten Hälfte eine eher beobachtend distanzierte Haltung zum Geschehen einnimmt. Wenn beispielsweise eine Polizeieinheit Kronachs Haus stürmt und ihn festnimmt, bleibt die Kamera auf Abstand zum dramatischen Geschehen. Die Herzen der Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen dürften dennoch berührt werden: Diesen Part übernimmt Publikumsliebling Jan Josef Liefers. Seine Augen, seine Blicke, seine Tränen, seine Verzweiflung und Ohnmacht vor Gericht sind genau an das Publikum gerichtet, das im Dokumentarfilm immer wieder ins Bild gerückt wird bei Wastl Mollaths öffentlichen Auftritten: Menschen, die ihm Glück wünschen, Mut zusprechen und ihn zu ihrem „Helden“ gemacht haben. Liefers ist aber nicht nur eine kommerziell beziehungsweise quotentechnisch clevere Besetzung, sondern er ist auch stimmig für die Figur, weil man ihm den smarten Glückspilz in jungen Jahren (an der Seite einer Julia Koschitz) eben auch abnehmen kann. Im Schlussdrittel in der Klinik, die bereits im kurzen Intro schlimmste Knast-Assoziationen weckt, tritt die Handlung logischerweise zurück. Jetzt beweist Steinbichler, dass er ein Regisseur ist, der große Gefühle nicht scheut. Wastl Kronach in seiner „Zelle“, monatelange Vollisolation, psychotische Selbstgespräche, Freigang in Ketten und auf wenigen Quadratmetern, eingekerkert, und der blaue Himmel ist ganz weit weg. Wer seelisch angeschlagen ist, bekommt hier den Rest. „Gefangen“, der Titel findet seine sinnliche Entsprechung in den Bildern. Der Blick fällt nur auf Mauern und Stacheldraht. Und als Zuschauer wird man Zeuge eines Verfalls. Liefers Kronach ergraut in Sekundenschnelle. Und dann, nach 2320 Tagen, spricht endlich er, der im Gerichtssaal immer schweigen musste. Sein Fazit: „Meine Person ist ausradiert. Es ist, als hätte ich nie gelebt.“
Nach seinem Plädoyer für seine Zurechnungsfähigkeit und nach seiner Anklage von Justiz & Psychiatrie (Inspirationsquelle), zeigt Steinbichler noch einmal die, die den Skandal vorangetrieben und ermöglicht haben: die Ehefrau, die im Film nie aus der Innenperspektive gezeigt wird und von daher in etwa dem entspricht, was Gustl Mollath im Dokumentarfilm über sie sagt (sie gab die Initialzündung, sei aber nicht verantwortlich für das Fehlverhalten von Justitia und den Behörden); die Banker, die wider besseren Wissens geschwiegen haben; der Psychiatriechef seiner Anstalt, der ihn für seinen „Widerstand“ bestraft hat. Am Ende setzt Steinbichler ganz auf Liefers und die emotionale Kraft der Ruhe. Dem Film, der die meiste Zeit der Chronologie der vielfältigen realen Ereignisse gefolgt ist, tut die Klarheit an dieser Stelle gut. Vielleicht hätte der eine oder andere Strich vorher auch nicht geschadet. Bei Kronachs Rede (in die Kamera) irritiert es allerdings, dass die eindringlichen Worte von Klaviergeklimper untermalt werden: „Über sieben Brücken musst du geh’n“, mit diesem sentimentalen, gesamtdeutschen Lied scheint sich noch einmal die anvisierte Zielgruppe zu bestätigen. Als ob Steinbichler dem Schauspieler und seinem Text nicht vertraut hätte, dabei bringen Liefers Worte den Fall wirkungsvoll auf den Punkt, verbinden Fakten mit Gefühl.