Freundschaft auf den zweiten Blick

Jürgen Heinrich, David Rott, Birbaek, Holger Haase. Zwei Männer mit Weitblick

Foto: Degeto / Rudolf Wernicke
Foto Rainer Tittelbach

„Bitte genieß‘ dein Leben. Öffne dich für Neues.“ Das, was die tote Ehefrau in der ARD-Dramödie „Freundschaft auf den zweiten Blick“ (Degeto / Dreamtool Entertainment) dem Liebsten in ihren Videobotschaften rät, das könnte sich durchaus auch der über zwanzig Jahre jüngere Karrieremensch zu Herzen nehmen, der dem hinterbliebenen Ehemann und Old-School-Einzelhändler das Leben schwer macht. Der altersweise Optiker und der optimierungsfixierte Manager einer Kette müssen sich geschäftlich zusammenraufen. Das gelingt ihnen aber erst, als sie ihre privaten Gemeinsamkeiten entdecken… Die Dramödie von Holger Haase nach dem Drehbuch von Michael Birbaek ist ein wohl durchdachter, bis ins Detail stimmiger Wohlfühlfilm. Erzählt wird in Bildern; aus äußeren Stimmungen ergeben sich Geschichten, die ins Innere der Charaktere zielen. Häufig sind es ganz alltägliche Gegenstände oder Situationen, die Existentielles spiegeln. Freundschaft ersetzt die Liebe, Männer müssen (fast) ohne Frauen auskommen. Jürgen Heinrich & David Rott bewältigen das – für die Zuschauer:innen – prima. Und auch der Erzählfluss des Films ist wunderbar.

„Wie war meine Beerdigung?“ In ihrer Videobotschaft sieht Marlene (Teresa Harder) für eine Tote reichlich munter aus. Die Frau, die jahrzehntelang für die Liebe ihres Lebens da war, machte sich kurz vor ihrem Tod noch berechtigte Sorgen um ihren Göttergatten Elmar (Jürgen Heinrich). Sie hat geahnt, dass dieser Mann, der Veränderung (verab)scheut, ohne sie an seiner Seite das Schöne im Leben vergessen und seine Trauer bei ihm ungesunde Züge tragen wird: vierundfünfzig unbeantwortete Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, provisorisches Schlafen auf der Couch, weil der Schmerz im Ehebett zu groß ist, das Vergessen wichtiger Termine. So hat er zum Beispiel den Zusammenschluss seines Optikergeschäfts mit der von Frank Wolf (David Rott) repräsentierten Kette „Weitblick“ aus seinem Gedächtnis verdrängt. Seine Frau hatte den Deal noch vor ihrer Krankheit eingefädelt. Jetzt steht der penetrante, weisungsbefugte Mann vor der Tür. Das alte Interieur muss raus, doch damit nicht genug: Will der gestandene Optiker „Weitblick“-Filialleiter werden, muss er eine Fortbildung absolvieren, und das mit 69 Jahren. Ausgerechnet an diesem Tag flattert wie von Geisterhand dieses Video auf dem Laptop ins Haus, der ihm zusammen mit einem Hund zugestellt wird. Marlene verfolgt(e) einen Plan. Der Hund gehört dazu, genauso wie ein Tanzkurs, sogar Yoga steht auf dem Programm. Was die Verstorbene nicht wissen kann: Dieser unverschämte Frank Wolf entpuppt sich als Schaf im Wolfspelz, der so einiges mit ihrem Elmar gemeinsam hat.

Freundschaft auf den zweiten BlickFoto: Degeto / Rudolf Wernicke
„Unser Leben verändert sich.“ Marlene (Teresa Harder) hat gut reden, sie ist tot. Aber sie hat sich noch zu Lebzeiten für ihren Elmar etwas einfallen lassen… Die Vielfalt des Lebens, wohl dosiert und ohne penetranten Zeigefinger in 90 Minuten verpackt!

Die Sache mit den (medialen) Botschaften einer Toten
Videobotschaften für die Hinterbliebenen sind eine clevere dramaturgische Idee. Der dänische Autor Michael Birbaek hat sich offensichtlich von der großartigen Netflix-Dramedy „After Life“ von und mit Ricky Gervais („The Office“) inspirieren lassen und das Motiv clever variiert. Auch einen Hund gibt es in der britischen Serie. Der aber ist schon seit Jahren im Haus, und er ist der Grund, weshalb sich der Trauernde nicht das Leben nimmt. Dass die Nachrichten der Verstorbenen nicht vorab auf dem Laptop installiert wurden oder ihm nicht wie in der Sat-1-Serie „Nachricht von Mama“, die sich ebenso dieses Film-im-Film-Tricks bedient, als Koffer voller Video-Sticks hinterlassen wurde, sondern sie wie von Geisterhand versendet werden, gibt dem Ganzen einen noch merkwürdigeren Anstrich. Und dass es mitunter sogar zu einer Art Kommunikation zwischen den Liebenden kommt, ist ein schönes Zeichen dafür, wie nah sich beide waren.

„Bitte genieß‘ dein Leben. Öffne dich für Neues.“ Das, was die tote Ehefrau in der ARD-Dramödie „Freundschaft auf den zweiten Blick“ rät, das könnte sich durchaus auch der über zwanzig Jahre jüngere Karrieremensch zu Herzen nehmen. Er hätte noch den Vorteil, diese schönen Dinge möglicherweise – wenn es dazu nicht schon zu spät ist – mit seiner Frau (An-na Maria Sturm) und seinem Sohn (Maximilian Brauer) gemeinsam erleben zu können. Je mehr die beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Männer, der altersweise Old-School-Einzelhändler und der karriere- und optimierungsfixierte Manager, sich kennenlernen, je augenscheinlicher ihre gemeinsamen Probleme und Lebensthemen werden, umso mehr vergessen sie ihre beruflichen Differenzen. Sie sind wie zwei Seiten einer Medaille: Der eine lebt nur in der Vergangenheit, der andere verschiebt sein (Familien-)Leben auf die Zukunft. Auch über ihr gemeinsames Hobby, die Astronomie, kommen sich die beiden näher. Und auch ein richtiges Gespräch unter Männern kann Wunder wirken. Über den Dächern von Leipzig gedeiht auf der Zielgeraden eine feuchtfröhliche Männerfreundschaft: Beide sinnieren bei Wein und Whiskey über das Leben und die Sterne, über Gott und das Weltall, dass es für den Betrachter eine wahre Freude ist. Mit dazu bei trägt auch die Besetzung: Jürgen Heinrichs charakteristisches Knitterface passt gut zu diesem nachdenklichen, tragikomischen Charakter, und David Rott ist wie immer eine Bereicherung, weil er selbst nach wütenden Auftritten mit groben Ausrastern seiner Figur, stets rasch zum sympathisch beiläufigen Spiel zurückfindet.

Freundschaft auf den zweiten BlickFoto: Degeto / Rudolf Wernicke
Private Vorlieben vs. Berufswelt-Regeln. Frank Wolf (David Rott) liebt Hunde über alles. Bei der Firma, für die er arbeitet, gilt allerdings: „keine Hunde!“ Chinh (Yvonne Yung Hee Bormann), Elmar (Jürgen Heinrich) und Roland (Andreas Birkner) staunen.

„Ich will so nicht mehr leben.“ Was in Plot-Beschreibung und Analyse wie das wohlmeinende Ratgeber-Fernsehen mit Wellness-Zugabe klingen mag, welches seit Jahrzehnten der öffentlich-rechtlichen Zielgruppe den Feierabend moderat pädagogisch und sinnstiftend versüßt, das trifft im Großen wie im Kleinen nicht auf „Freundschaft auf den zweiten Blick“ zu. Dafür ist der Film von Komödien-Experte Holger Haase nach dem Drehbuch von Michael Birbaek im Detail einfach viel zu gut gemacht. Erzählt wird in Bildern; aus äußeren Stimmungen ergeben sich Geschichten, die ins Innere der Charaktere zielen. Häufig sind es ganz alltägliche Gegenstände oder Situationen, die Existentielles spiegeln. Es ist kein Zufall, dass Elmar anfangs immer auf der Couch schläft. Später ist es die „Schlafliege“ im Verkaufsraum, die die beiden Männer quasi schicksalhaft verbindet. Gleiches gilt für den Hund und die (anfangs unfertige) Sternwarte auf der Dachterrasse. Sie werden zu Zeichen dieser „Freundschaft auf den zweiten Blick“. Schön auch, wie sich an ihnen der Gegensatz zwischen Arbeit und Privatleben entzündet. Als Privatperson ist Frank Wolf hin und weg von diesem – wie er sagt – Pudel-Labrador-Mischling; doch dann fällt ihm die „Weitblick“-Regel wieder ein: „Keine Hunde!“. Oder eben die Kunden-Couch, die bei der ersten Inspektion raus muss, die dem Manager später aber die Möglichkeit eines Schlafplatzes für die Nacht gibt. Auch andere Details stimmen: Die Stadt Leipzig passt gut zur Geschichte; dass Geld für die Figuren keine große Rolle spielt, macht das wertige Szenenbild und den edlen, zeitgemäßen Look nicht nur schön zum Anschauen, sondern auch narrativ stimmig. All das verbindet sich zu einem (gewiss im Drehbuch bereits angelegten) wohl getimten Erzählfluss, in der keine Szene zu lang ist und alle Sub-Plots wunderbar ineinanderfließen. Da haben wir es wieder: Anstatt die Handlung zu bebildern, entsteht die Geschichte aus Stimmungsbildern. Fazit: ein wohldurchdachter, bis ins Detail stimmiger Wohlfühlfilm, der Spaß macht.

Ein Freund, ein guter Freund – ein aktueller Trend?
Es muss nicht immer Liebe und Familie sein in deutschen Feelgood-Filmen. In Reihen wie „Käthe und ich“ (ARD), „Ella Schön“ (ZDF), „Frühling“ (ZDF) oder „Toni, männlich, Hebamme“ (ARD) spielt Freundschaft eine gewichtige Rolle. „Ein Freund, ein guter Freund“ – aktuell scheint dieses Thema wieder einmal hoch im Kurs zu stehen: Neben Freundschaft auf den zweiten Blick“ gab es unlängst die Episode „Freundinnen für immer“ aus der Psychologen-Reihe „Käthe und ich“, die noch expliziter auf Freundschaft gebürstet wurde als sonst, und den Samstagsfilm „Rückkehr nach Rimini“ (ARD), die selbstkritische Reise dreier Freunde in ihre nostalgische Vergangenheit. Und im ZDF startet demnächst die Reihe „Freunde sind mehr“ um eine eingeschworene Gemeinschaft auf Rügen. Ein Trend wie in den 1990er Jahren ist das allerdings noch nicht: Damals stand hierzulande im Zuge von US-Serien wie „Golden Girls“, „Die besten Jahre“ („Thirtysomethings“), „Melrose Place“, „Friends“, „Seinfeld“, „Ellen“ oder später „Sex and the City“ das Freundschaftsthema hoch im Kurs – in Serien wie „Um die 30“ (ZDF), „Freunde fürs Leben“ (ZDF), „Freunde wie wir“ (Sat 1) oder „Girl Friends“ (ZDF).

Freundschaft auf den zweiten BlickFoto: Degeto / Rudolf Wernicke
Elmar (Jürgen Heinrich) im Tanzkurs. Kern soll seine Komfortzone verlassen – das wünscht sich jedenfalls seine tote Frau, die ihm noch heute Videobotschaften zukommen lässt. Ob sie ihn aber tatsächlich mit der Tanzschullehrerin Anna (Heike Trinker) verkuppeln möchte?

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Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Jürgen Heinrich, David Rott, Teresa Harder, Heike Trinker, Anna Maria Sturm, Maximilian Brauer, Yvonne Yung Hee Bormann, Andreas Brinker und als Gast Julia Richter

Kamera: Michael Schreitel

Szenenbild: Romy Gawlik

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Torsten Lenz

Musik: Moritz Denis, Eike Hosenfeld

Soundtrack: De-Phazz („Something Special“), Della Reese („Why Don’t You Do Right“), Earth Wind & Fire („September“)

Redaktion: Sascha Mürl, Stefan Kruppa

Produktionsfirma: Dreamtool Entertainment

Produktion: Stefan Raiser

Drehbuch: Michael Birbaek

Regie: Holger Haase

Quote: 3,58 Mio. Zuschauer (12,8% MA)

EA: 25.03.2022 20:15 Uhr | ARD

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