Freistatt

Louis Hofmann, Katharina Lorenz, Marc Brummund. Zwangsarbeit im Namen des Herrn

Foto: SR / Boris Laewen
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„Freistatt“ erzählt vom Schicksal deutscher Heimkinder. Freistatt in Niedersachsen war eines der schlimmsten westdeutschen Erziehungsheime in den 60er und 70er Jahren. Marc Brummund kehrte für seinen mehrfach preisgekrönten Kinofilm an den Ort des Schreckens zurück. Gedreht wurde an Originalschauplätzen – Freistatt gehört zu jenen Einrichtungen, die ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben. Kein Thesenfilm, sondern ein Themenfilm, der weit über den Wert einer Dokumentation hinausgeht. Insbesondere Judith Kaufmanns Kamerablick  gewinnt dem Thema neue Facetten ab und öffnet dem Zuschauer i.w.S.d.W. die Augen. (Da es gute Kino-Kritiken zu „Freistatt“ gibt, verzichtet tittelbach.tv auf einen eigenen Text.)

Die Geschichte
Sommer, 1968: Der Wind der Veränderung ist in den norddeutschen Kleinstädten höchstens als Brise zu spüren. Mit Aufmüpfigkeit begegnet der 14-jährige Wolfgang (Louis Hofmann) seinem Alltag, seiner Mutter (Katharina Lorenz) und vor allem seinem Stiefvater (Uwe Bohm). Als er von seiner Familie in die abgelegene kirchliche Fürsorgeanstalt Freistatt abgeschoben wird, findet er sich in einer Welt wieder, der er nur mit noch unbändigerem Freiheitsdrang begegnen kann: verschlossene Türen, vergitterte Fenster, militärischer Drill während der als Erziehung verbrämten täglichen Arbeitseinsätze im Hochmoor. Doch für Wolfgang ist eines klar: Seine Sehnsucht nach Freiheit wird er so schnell nicht begraben.

„Uns hat diese unerhörte Gleichzeitigkeit fasziniert: Auf der einen Seite eine Gesellschaft, die zwischen Rock ’n‘ Roll und Studentenrevolte schier unbändig nach Freiheit zu streben scheint, auf der anderen Seite die Fortschreibung eines institutionalisierten und in seiner Dimension kaum vorstellbaren Missbrauchs in Erziehungsheimen und Institutionen.“ (Ko-Autor & Regisseur Marc Brummund)

FreistattFoto: SR / Boris Laewen
„Freistatt“. Seine Sehnsucht nach Freiheit gibt Wolfgang (eine Entdeckung: Louis Hofmann) nicht so einfach auf. Aufmacher-Foto: Ist seiner Mutter (Katharina Lorenz) das Leben mit ihrem neuen Mann wichtiger als ihr Sohn?

Ein Ausbeutungsbetrieb in der Zuständigkeit der Diakonie
Sie stechen Torf im Moor, bei Wind und Wetter, es ist Knochenarbeit. Macht einer schlapp, werden alle mit Essensentzug bestraft. Wer aufmuckt, kommt in den Bunker, wer weiter aufmuckt, wird schwer misshandelt. Prügel sind an der Tagesordnung, fliehen ist zwecklos: Die Sümpfe erstrecken sich bis zum Horizont. Manch ein Jugendlicher verschwindet über Jahre im Heim. Den Eltern müssen die Zöglinge schreiben, dass es ihnen gut geht. Freistatt in Niedersachsen war eines der schlimmsten westdeutschen Erziehungsheime in den 60er und 70er Jahren…. Deutsche Täter, deutsche Opfer, eine ängstliche Mutter, ein tyrannischer Stiefvater: Brummund psychologisiert und differenziert nicht, führt nicht aus, wie die Gewalt im Schatten der unbewältigten NS-Verbrechen gedeiht. Er setzt auf den Hell-Dunkel-Kontrast, auf die Wucht des Geschehens: Wolfgangs Leidensweg basiert auf wahren Ereignissen. Gedreht wurde an Originalschauplätzen – Freistatt gehört zu jenen Einrichtungen, die ihre Vergangenheit aufgearbeitet haben.   (Christiane Peitz: Süddeutsche Zeitung)

Der Film hat ein Anliegen, ist aber kein Thesenfilm geworden!
Es kommt nicht von ungefähr, dass im Zuschauer unweigerlich Assoziationen an KZ-Häftlinge aufsteigen, wenn die Zöglinge in Draisinen und mit Holzpantinen bekleidet ins Moor fahren. Und noch dazu das Lied von den Moorsoldaten singen, das im KZ Börgermoor entstand. Das kommt aber nicht als billige Kirchenkritik herüber (80 Prozent aller Heime waren damals in kirchlicher Trägerschaft), sondern wirkt eher als Hinweis auf die Kontinuität autoritärer Strukturen, die sich von der faschistischen in die Nachkriegsgesellschaft – die ja alles andere als liberal war – herübergerettet haben… Man merkt dem Film sein Anliegen durchaus an – ein Thesenfilm ist daraus aber nicht geworden. (Rudolf Worschech: epd film)

Noch vor der Kino-Premiere von „Freistatt“ bekam Kamerafrau Judith Kaufmann beim Emder Filmfest den Creative Energy Award verliehen. Ich saß in der Jury. Auf Grundlage unserer Diskussion habe ich folgende Laudatio verfasst:

Filmisches Erzählen ist im Idealfall immer Erzählen mit der Kamera. Gute Kameraarbeit veredelt häufig die Geschichten. Judith Kaufmann gelingt in „Freistatt“ mehr als das. Ihre Bilder erzeugen eine sinnhafte Tiefe, die das Erzählte transzendiert, und sie erzeugen gleichsam eine sinnliche Sogkraft, die den Zuschauer mitnimmt in diesen Film über den Schrecken der kirchlichen Heimerziehung in den 60er Jahren. Kaufmanns Kamerablick gewinnt dem Thema neue Facetten ab und öffnet dem Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes die Augen: Das Grauen mal in den Bildern einer 50er-Jahre-Idylle, mal in den Farben des „Summer of Love“ zu zeichnen, die Enge der Fürsorgeanstalt mit der Weite der Moorlandschaft zu kontrastieren und so die Ohnmacht, den gesellschaftlichen Aufbruch und den individuellen Freiheitsdrang in die Ikonografie des Films einzuschreiben – das ist großes europäisches Bilderkino.

FreistattFoto: SR / Boris Laewen
Bei der Zwangsarbeit sind keine Widersprüche erlaubt. Bruder Wilde (Stephan Grossmann) lehrt Wolfgang (Louis Hofmann) Gehorsamkeit und scheut nicht den Einsatz von Gewalt. Auch für den Zuschauer sind solche Szenen nicht leicht auszuhalten.

Hort der Quälerei in einer Zeit, die von Emanzipation träumt
Für Marc Brummund ist die politische Signatur der Zeit ohne Belang. Er interessiert sich für ein Drama der großen Gefühle und auch der großen Bilder. Die Kamerafrau Judith Kaufmann überträgt die niedersächsische Landschaft in opulente Panoramen. Vogelschwärme vor großem Horizont deuten an, was möglich wäre in einer anderen Wirklichkeit, in der die Menschen einander nicht das Leben so unerträglich schwermachen würden… In „Freistatt“ geht es um einen neuralgischen Moment: Der autoritäre Charakter trifft auf die populäre Kultur, das evangelische Kirchenlied auf das amerikanische Spiritual. „Sometimes I feel like a motherless child“, mit dieser Klage beginnt in „Freistatt“ die Revolte. Es ist der Moment, um den bei Fassbinder, beim frühen Wenders, beim frühen Herzog fast alles kreist: wie sich aus der Gewalt der Verhältnisse eine Idee von Emanzipation, von Freiheit, von Individualität entwickeln kann. „Freistatt“ hingegen setzt um der stärkeren Effekte willen auf Ausweglosigkeit. Man möchte am Ende lieber nicht mehr wissen, was aus diesem Wolfgang später noch werden wird. (Bert Rebhandl: FAZ.net)

Die Widerspenstigkeit der Hauptfigur macht den Film sehenswert
Dass der Film es dann doch noch schafft, einen zu überraschen, dass die Figuren sich von Schablonen zu Charakteren wandeln, die einen etwas angehen, das liegt zum einen an den wirklich sehr guten Schauspielern (Hauptdarsteller Louis Hofmann hat verdientermaßen auch schon den Bayerischen Filmpreis als bester Nachwuchsdarsteller gewonnen). Sie spielen nicht nur brutale Abgestumpftheit oder leidendes Ausgeliefertsein, sondern sämtliche Schattierungen dazwischen. Sie sind dabei wache Menschen, die zwar gerade in eine furchtbare, menschenfeindliche Umgebung gesperrt sind, aber sich nicht darauf reduzieren lassen. Zum anderen nimmt Wolfgangs beeindruckende Widerständigkeit einen immer wieder für ihn und den Film ein. Er begehrt auf, stiftet zur Rebellion an, obwohl die Kräfteverhältnisse so ungleich sind und auch die anderen Jungs es ihm nicht danken, sondern ihn verprügeln, wenn sie seinetwegen mal wieder kein Abendessen kriegen. Und dann gibt es auf einmal diesen wunderbaren Moment, in dem sie doch zusammenhalten. Da wird einem Jungen der Plattenspieler weggenommen, und er kuscht nicht, sondern singt das Lied einfach selbst weiter. Als er still sein soll, stimmen die anderen ein, Freedom singen sie – und sind für die Dauer dieses Songs ganz plötzlich sehr stark. (Julia Dettke: Zeit.online)

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Kinofilm

Arte, SWR

Mit Louis Hofmann, Katharina Lorenz, Uwe Bohm, Alexander Held, Stephan Grossmann, Max Riemelt, Anna Bullard-Werner, Enno Trebs

Kamera: Judith Kaufmann

Szenenbild: Christian Strang

Kostüm: Christian Binz

Schnitt: Hans Funck

Musik: Anne Nikitin

Produktionsfirma: Zum Goldenen Lamm

Drehbuch: Nicole Armbruster, Marc Brummund

Regie: Marc Brummund

Quote: ARD: 2,40 Mio. Zuschauer (7,3% MA)

EA: 20.01.2017 20:15 Uhr | Arte

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