Wie soll man die Wahrscheinlichkeit eines Todes durch gefrorene Hähnchen berechnen? Kann man die Treue seines Ehemanns für eine Million Euro versichern? Und wie soll man dem Herzenswunsch eines Einbrechers nach einer Berufsunfähigkeitsversicherung nachkommen? Carla Temme (Meike Droste), die Risiko-Analystin einer Kölner Versicherung, stößt bei ihrer Arbeit zunehmend an ihre moralischen Grenzen. Seit die Niedrigzins-Krise der Branche „Die Rheinische“ zu der neuen Geschäftsidee verleiten ließ, sogenannten No-Limit-Versicherungen, die für jeden noch so unmöglichen Fall die passende Police parat halten, macht der besten Kraft von Abteilungsleiter Hans-Peter Mühlens (Martin Brambach) ihre Arbeit nur noch selten Spaß. Wenn es ihr allerdings gelingt, gemeinsam mit ihrem Juristenkollegen Horst Ballsen (Ronald Kukulies) „die neue Geheimwaffe“ der Abteilung, den karrieregeilen Erfinder der No-Limit-Idee Frank Weber (Sebastian Schwarz), auszutricksen, wenn sie es schafft, Menschen mit offensichtlichen Phobien von ihren unbegründeten Ängsten zu befreien, anstatt ihnen unrealistische, überteuerte Versicherungen zu verkaufen, dann ist sie glücklich. Zum privaten Glück hat diese Mittdreißigerin hingegen kein Talent. Was auch an ihrer schweren Beziehung zum Risiko liegt. Ihre Berufswahl ist kein Zufall. Aber Carla arbeitet an sich – und sie „lernt“ durch ihre Fälle und von den Menschen, die ihr bei ihrer Arbeit begegnen.
Foto: WDR / Jens van Zoest
Deutsche sind risikoscheu. Jeder Deutsche hat im Durchschnitt sechs Versicherungen und zahlt dafür im Jahr ca. 2400 € an Beiträgen. Dieses spezifische nationale Sicherheitsbedürfnis ist die gesellschaftliche „Ausgangserfahrung“, derer sich die Macher der neuen ARD-Serie „Frau Temme sucht das Glück“ angenommen haben. „Kann ein Leben, das alle Risiken vermeidet, alles auf Effizienz trimmt, Selbstoptimierung in den Mittelpunkt stellt, glücklich machen?“, benennt Executive Producer Gebhard Henke im Presseheft eine zentrale Frage der Serie. Damit leuchten die Sitcom-erfahrenen Autoren Dietmar Jacobs (Konzept; „Stromberg“) & Benedikt Gollhardt (Headwriter; „Danni Lowinski“) in den bisher (leider erst) sechs Folgen nicht nur in das Leben einiger vermeintlicher Freaks, sondern auch ins kollektive Unbewusste der Deutschen. „Wissen Sie, was im Leben alles passieren kann?!“, fragt sichtlich besorgt die Heldin einen schwedischen Versicherungstotalverweigerer, den sie liebevoll „einen völlig Schutzlosen“ nennt. „Hoffentlich viel“, antwortet der – was dem Zuschauer die zwei völlig konträren Lebenskonzepte, die hier aufeinanderprallen (und künftig erwartungsgemäß auf gegenseitige Anziehung hoffen), komprimiert und pointiert in zwei Sätzen deutlich macht. Der Widerspruch zwischen Risikobereitschaft und Glück, das Muster, sich aus Angst vom Leben abzuschneiden, zieht sich lustvoll – mit ironischem Augenzwinkern – durch die Serie.
Soundtrack (zu den Folgen 1 / 2 / 4):
Norah Jones („Sunrise„), Mike Doughty („Your Misfortune„), Bon Iver („Skinny Love„), Vicky („Ich liebe das Leben„), James Morrison („Beautiful Life„), Incubus („Love Hurts“), Paul Weller („Do You Something To Me“), Donots („Stop The Clocks„), Kings of Convenience („24-25„), Stina Nordenstam („Little Star„)
Foto: WDR / Michael Böhme
Bei einem wie Martin Brambach ist das schon kein Zwinkern mehr. Sein Mühlens ist aber nie nur eine Chef-Karikatur, tatsächlich brennt der Schauspieler mit seinem Wechselspiel der Stimmungslagen zwei, drei Mal pro Episode ein kleines Komikfeuerwerk ab. Mal ist sein Hans-Peter berechnend, mal versucht er, witzig zu sein, mal macht er auf jovial, um im nächsten Moment als Chef auf den Tisch zu hauen, bevor er sich Sekunden später im Gehen noch einmal umdreht und ein langes „Bitte“ mit echt verzweifelt wirkendem Blick hinterherschickt. Charakterlich ist Brambachs Chef schwach, ist die Sorte Mensch, die einem einen Gefallen tut, um sich dann ein Leben lang der Loyalität des Begünstigten sicher sein zu können. Mühlens ist kaufsüchtig, spielsüchtig, eine arme Socke, die sich mit Statussymbolen seelisch über Wasser hält, und er ist, so Brambach, „nicht die hellste Lampe am Tisch“. Deshalb steht und fällt seine Position mit seiner Risikoanalystin, die er deshalb ständig verbal umschmeichelt („die Beste“) oder für die er schon mal einen Versicherungsbetrug ihrer schamlosen Schwester Hannah unter den Tisch fallen lässt, um sie von der Kündigung abzuhalten. Carla Temme, wie es der Titel nahelegt, ist das Herzstück, die Seele der Serie. Eine Mittdreißigerin, der die Phobien ihrer Kunden nicht ganz fremd sind. „Die Arbeit gibt ihr einen starken Rahmen, eine klare Struktur, und sie suggeriert ihr, das dies ganz so ist, wie das Leben zu sein hat“, charakterisiert Meike Droste ihre Figur. Carla braucht Sicherheit, sie plant gern, besitzt deshalb auch dieses Faible für die Berechnung von Risikowahrscheinlichkeiten – und sie würde bei 20-prozentiger Regenwahrscheinlichkeit nie ohne Schirm das Haus verlassen. Das ist durchaus verständlich für eine Frau, der vor zehn Jahren kurz nach der Hochzeit ihr Mann verlustig gegangen ist („er kam vom Joggen nicht zurück“) und die bis heute nicht weiß, was mit ihm passiert ist. Natürlich hat sie große Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben. Meike Droste spielt das so wie ihre Carla ist: hinreißend alltagsnah, unverstellt, bodenständig, mit allen Ängsten, die ein normaler Mensch so mit sich herumträgt.
„Frau Temme sucht das Glück“ kommt locker, ähnlich wie eine britische Dramedy daher. In ihrer Machart erinnert die WDR-Produktion – kein Zufall bei diesem Headwriter! – an die Sat-1-Erfolgsserie „Danni Lowinski“: Da sind die ritualisierten Situationen, die häufig wiederkehrenden Schauplätze, die ähnlich gelagerten Konflikte, das humanistische Menschenbild der Hauptfigur, ihre große Empathie, ohne dabei süßlich zu werden – und natürlich der Handlungsort Köln. Eine solche intelligente, lebenskluge Serie, die die Möglichkeiten des Genres auslotet, dabei allerdings die Sehgewohnheiten der öffentlich-rechtlichen Zielgruppen im Auge behält, hat auf dem ARD-Primetime-Sendeplatz am Dienstag Seltenheitswert. Gesellschaftlich relevante Serien-Unterhaltung wird im „Ersten“ sonst bestenfalls als sozialdemokratisches Lehrstück à la „Die Kanzlei“ unters Fernsehvolk gebracht. So spielerisch, komödiantisch und zeitgemäß ist man das Genre hierzulande noch nicht angegangen („Vorstadtweiber“ ist ja eine ORF-Produkion). Die Geschichten von „Frau Temme sucht das Glück“ sind komplexer, als es auf den ersten Blick scheint; sie sind lebensphilosophisch angehaucht, Gedanken und Haltungen werden aber nicht 1:1 vermittelt, sondern sind komisch gebrochen und somit frei von rührseliger Selbstfindungsrhetorik. Die Serie hält der Gesellschaft den Spiegel vor, ohne großen Aufhebens davon zu machen. Und wie in jeder guten Dramedy gelingt den Autoren ein harmonisches Miteinander von episodischen & horizontalen Erzählstrategien. Da kann man nur hoffen, dass die Zuschauer bei dieser Serie ihr Glück finden – und sie fortgesetzt wird! (Text-Stand: 20.12.2016)
Foto: WDR / Michael Böhme