Das ist wirklich mal ein TV-Experiment: Beide „Feinde“-Filme erzählen im Kern dieselbe Geschichte und beginnen deshalb auch – fast – identisch. Ein Winter-Morgen im Hause der Familie von Bode, typischer Alltag, wenn auch in einem extrem wohlhabenden Umfeld. Tochter Lisa (Alix Heyblom) macht sich auf den Weg zur Schule, wird von einem maskierten Unbekannten in einen Transporter gezerrt, mit Klebeband gefesselt und in einen Raum ohne Fenster in einer leer stehenden Industriehalle gebracht. Für Verpflegung ist gesorgt, für die nötige Wärme soll ein alter Kohle-Ofen sorgen. Der stumme Entführer zeigt Lisa, wie der Ofen funktioniert, dann verlässt er den Raum. Lisas Handy mit seiner Forderung nach fünf Millionen Euro in Bitcoins hatte er zuvor in den Briefkasten der von Bodes geworfen. Lisas Mutter (Ursina Lardi) unterrichtet ihren Mann (Harald Schrott). Der Entführer setzt den Transporter an einem verlassenen Ort in Brand. Und die Kamera bereitet das Publikum schon auf das kommende Unheil vor und zeigt, wie der Wintersturm eine große Plastikplane über den kleinen, rauchenden Schornstein auf dem Dach des Gebäudes weht. Der Unterschied in beiden Filmen besteht bis dahin nur in einzelnen Schnitten und Kamerapositionen, aber fundamental in der Farbgebung. Die Bilder in „Gegen die Zeit“, der im Ersten den TV-Abend eröffnet, sind in einem kalten Grau-Blau gehalten, die in „Geständnis“, das bei One und allen Dritten zuerst ausgestrahlt wird, in wärmeren braunen und gelben Tönen.
Was ist ausschließlich in den jeweiligen Filmen zu sehen?
Nach exakt 13 Minuten trennen sich die Wege auch dramaturgisch. „Gegen die Zeit“ folgt nun der Ermittlungsarbeit von Kommissar Peter Nadler (Bjarne Mädel), in „Geständnis“ rückt die Perspektive von Rechtsanwalt Konrad Biegler (Klaus Maria Brandauer) in den Vordergrund. Während das Publikum also auf dem „Tatort“-Sendeplatz im Ersten einen (vorübergehend typischen) Krimi serviert bekommt, bei dem die Polizei noch ganz am Anfang der Ermittlungen steht, steigen die Zuschauerinnen und Zuschauer bei One und in den dritten Programmen bereits zu einem späteren Zeitpunkt der Handlung ein – nachdem der Tatverdächtige Georg Kelz (großartig: Franz Hartwig) den Ort von Lisas Versteck verraten hatte und die Leiche des Mädchens gefunden wurde. Anwalt Biegler übernimmt nun das Angebot, Kelz zu vertreten. „Gegen die Zeit“ erzählt ab Minute 13 die Entwicklung des langjährigen, desillusionierten Kommissars zu einem Polizisten, der entschlossen ist, zum letzten Mittel zu greifen, um das Leben Lisas zu retten. Mit Bjarne Mädel ist die Rolle ungewöhnlich besetzt, denn Mädel wurde beinahe ausschließlich als komödiantischer Schauspieler populär, von „Stromberg“ bis „Tatortreiniger“, und muss hier auch gegen sein Image anspielen (was ihm eindrucksvoll gelingt). Er spielt den Peter Nadler nicht als gefühllosen Haudrauf, für den Gewalt vielleicht sogar ein Vergnügen wäre, sondern als einen eher stillen Typen und Familienvater, dem man die Empathie für die Opfer abnimmt.
In „Geständnis“ haben dagegen Jan Ehlert (Buch), Nils Willbrandt (Buch, Regie) und Klaus Maria Brandauer ab Minute 13 mehr Zeit, um dem Anwalt Profil zu verleihen. Brandauer ist zwar keine mutige, aber natürlich klasse Besetzung, denn dem österreichischen Theater- und Film-Star nimmt man den eigenwilligen, wortgewaltigen Strafverteidiger von der ersten Sekunde an ab. In dem kettenrauchenden Anwalt ist unschwer Ideengeber und Autor Ferdinand von Schirach wiederzuerkennen. Allerdings wirkt „Geständnis“ ein wenig gestreckt: Man sieht Biegler nicht nur in Gesprächen mit Kelz oder seinen Kanzlei-Mitarbeitern, sondern auch bei seinem Arzt und beim Essen mit seiner Frau, die ihn davon abhalten will, das Mandat anzunehmen. Das sind schön besetzte Nebenrollen (Samuel Finzi, Ulrike Kriener), und der im Prozess bisweilen schneidende Strafverteidiger wird auf diese Weise menschlicher, sympathischer. Aber man fragt sich doch, warum soviel Aufhebens um den Anwalt gemacht wird, aber zum Beispiel die Opfer-Perspektive, das Leiden Lisas und ihrer Angehörigen, so gar keine Rolle spielt (auch nicht in „Gegen die Zeit“).
Das gemeinsame Schlusskapitel: Der Showdown vor Gericht
Die Antwort mag konzeptionell nachvollziehbar und dramaturgisch richtig sein, ist aber trotzdem unbefriedigend. Alles soll auf einen Showdown zwischen Kommissar und Anwalt vor Gericht hinauslaufen – nun wieder in beiden Filmen. Der Titel „Feinde“ gibt dem Konflikt zwischen Zeuge und Verteidiger einen arg dramatischen Anstrich, doch die Konfrontation im Gerichtsdrama ist zweifellos packend. Das ist von Schirachs Terrain, hier kommen seine speziellen Kenntnisse als Jurist und sein Talent für pointierte Dialoge zur Geltung. Das ausführliche Kreuzverhör im Schlusskapitel („Der Prozess“), in dem Biegler und Nadler über Folter als Option in Ausnahmesituationen und über die Gründe für ein uneingeschränktes Folter-Verbot diskutieren, ist in beiden Filmen textgleich und dauert allein fast eine halbe Stunde. Auch hier sind neben der Farbgebung die unterschiedlichen Kamerapositionen und -bewegungen von großer Bedeutung. In der „Gegen die Zeit“-Version trägt die Kamera durch größere Nähe zu einer Identifikation mit dem Zeugen Nadler bei. Zugleich lässt sich genauer beobachten, wie der anfangs selbstsichere Polizist immer unsicherer wird und unter den Fragen des Anwalts unter Druck gerät. Die Perspektive ist eher von unten nach oben gerichtet, im „Geständnis“-Film ist es genau umgekehrt. Die Kamera positioniert sich häufiger auf der Seite des Angeklagten und seines Anwalts, aber auch am Pult der Richterin (Anne Ratte-Polle) und der Staatsanwältin (Neda Rahmanian).
Was es noch gibt: Einen dritten Film für die Mediatheken sowie eine Doku
Das doppelte Spiel hat Raffinesse, und es wäre interessant herauszufinden, ob die Meinungen des Publikums über das am Ende gesprochene Urteil davon abhängen, welche Film-Version sie gesehen haben. Andererseits sind beide Filme über weite Strecken inhaltlich identisch. Im Zweifel genügt es, einen gesehen zu haben – man verzichtet dann auf einen anderen Zugang, andere Perspektiven und eine andere ästhetische Herangehensweise, aber man verpasst kein entscheidendes Detail zum Verständnis der Geschichte und der Kern-Botschaft. Und es gibt sogar eine dritte, nur 45-minütige Film-Version, die sich auf das Gerichtsdrama beschränkt und Aussagen mit Spielszenen im Splitscreen visuell belegt. Dieser Film, der wie die Schlusskapitel in den beiden 90-minütigen Versionen mit „Der Prozess“ betitelt ist, wurde nur für die ARD-Mediatheken produziert, wird aber auch im linearen Programm bei One ausgestrahlt. Und eine Dokumentation („Ferdinand von Schirach: Feinde – Recht oder Gerechtigkeit?“) gibt’s auch noch. Sie bildet im Ersten das Scharnier zwischen den Filmen „Gegen die Zeit“ und „Geständnis“. Hier kommen von Schirach selbst, eine Strafrechts-Expertin, die Angehörigen eines getöteten Mädchens und Richard Oetker, der 1976 selbst Opfer einer brutalen Entführung wurde, zu Wort. Außerdem wurden 100 Frauen und Männer – Elternpaare, Polizisten und Juristen – in einem Münchner Kino mit dem Stoff konfrontiert und anschließend zum fiktiven Gerichtsurteil befragt.
Was es nicht gibt: Eine Publikumsbefragung wie bei „Terror“ und „Gott“
Dabei bleibt es aber, und es ist eine gute Entscheidung, nach „Terror“ und „GOTT nach Ferdinand von Schirach“ nicht auch noch bei „Feinde“ eine Art ARD-Volksbefragung durchzuführen. Während „Gott“ mit der Sterbehilfe ein aktuelles, alle Menschen berührendes Thema verhandelte, ist es doch sehr irritierend, dass die ARD die populistische Frage, ob „Rettungs-Folter“ in Deutschland nicht vielleicht doch eine Option sein könnte, fast 20 Jahre nach dem Fall Metzler mit derartiger Wucht auf die Tagesordnung setzt. Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner, der Entführer Magnus Gäfgen damals Gewalt androhen ließ, um eine Aussage zu erzwingen, wurde dafür in einem Gerichtsverfahren schuldig gesprochen, aber nur mit einer milden Geldstrafe belegt. Ferdinand von Schirach wärmt das Thema mit seiner Vorlage wieder auf – aber warum und warum gerade jetzt? Besondere Gründe scheint es dafür nicht zu geben, und jeder Vergleich mit den aktuellen Debatten um Polizeigewalt würde auch gewaltig hinken. Doch die ARD kann einem „Weltbestseller-Autor“, wie er in der Doku etwas zu überschwänglich gefeiert wird, offenbar nichts abschlagen. Ferdinand von Schirach sagt, das übergeordnete Ziel seiner Arbeit sei es, dem Publikum das deutsche Rechtssystem verständlich zu machen. „Es ist gar nicht schlimm, wenn Sie Folter richtig finden. Aber Sie müssen darüber reden“, erklärt er. Emotionalität dürfe niemals Gesetz werden.
Fernsehfilme dagegen leben von Emotionalität. „Ferdinand von Schirach: Feinde“ enthält zweifellos ein ausführliches Plädoyer für den Verfassungsgrundsatz „Die Menschenwürde ist unantastbar“, weckt aber auch Verständnis für einen folternden Polizisten. Und während die Folterszenen in beiden Filmen gezeigt werden, der Tatverdächtige also auch als Opfer zu sehen ist, bleiben die Qualen Lisas und ihrer Angehörigen weitgehend ausgeblendet. Möglicherweise eignet sich einfach nicht jeder Stoff für ein derartiges TV-Experiment, auch wenn es formal und ästhetisch interessant ist. Zum Thema „Rettungs-Folter“ gab es übrigens bereits eine erstklassige fiktionale Aufarbeitung: den ZDF-Fernsehfilm „Der Fall Jakob von Metzler“ aus dem Jahr 2012, der unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde.