Bei der Silberhochzeit ihrer Eltern sollen die Fetzen fliegen. Philomena (Gro Swantje Kohlhof) ist tief verletzt und fühlt sich wieder mal so richtig allein gelassen. 22 Jahre kam sie nie richtig zum Zuge in dieser Familie: Neben ihren älteren Schwestern Miss Perfect Laura (Karin Hanczewski) und der extrem zielstrebigen Kristin (Claudia Eisinger) hatte sie einen schweren Stand. Durch einen Zufall muss Philomena nun erfahren, dass sie ein Kuckuckskind ist. Jetzt versteht sie ihre Fremdheitsgefühle, ihr ständiges Auf-der-Suche-Sein, ihre Einsamkeit. Aber ihre Eltern sollen büßen und die Festgesellschaft mit ihnen. Doch erst einmal heißt es, von München zur Hallig Langeness zu kommen. Bald sitzen alle drei Schwestern und ein junger Mann, „Fahrer“ Rick (Sebastian Fräsdorf), in einem Feuerwehrauto und zuckeln gen Norden. Weniger gemütlich ist der Umgangston zwischen den Mädels. Philomena hat ihre Schwestern noch nicht eingeweiht. Die beiden scheinen sowieso nur wieder ihre eigenen Probleme zu sehen. Die sind allerdings auch existentiell: Kristin ist schwanger und hat Aussicht auf einen Traumjob in der Raumfahrtforschung, und Laura ist gar nicht so glücklich, wie sie immer tut, und das Spießerleben ihres Verlobter ist eigentlich gar nicht ihr Ding. Auf der Fahrt in ihre alte Heimat haben die drei Schwestern nun genug Zeit, sich wegweisende Gedanken zu machen.
Foto: Degeto / Maor Waisburd
Familie, Liebe, Beruf, Selbstfindung, individuelle Freiheit – zwischen diesen universalen Themen balancieren die weiblichen Hauptfiguren in der ARD-Komödie „Familie ist kein Wunschkonzert“. Dabei wird der Weg zum Ziel der Geschichte. Das Road-Movie-Genre sorgt dafür, dass die Frauen nicht nur physisch vom Fleck kommen (auch wenn es einige Fortbewegungsprobleme gibt), sondern dass sie auch „innere“ Fortschritte machen. Wenn Schwestern eine Reise tun, dann lässt sich was erkennen – das ist nun mal so in solchen Glückssuchefilmen, und es ist an sich kein Manko. Allerdings braucht der Film für diese (Allerwelts-)Erkenntnisse viel zu lange: Fast 60 Minuten verharren die Figuren in ihren zementierten, zu deutlich auf ihre Unterschiedlichkeit hin gesetzten Rollen. Da läuft dann irgendwann sinnbildlich der Motor des Feuerwehrwagens heiß und fängt selbst Feuer. Nichts geht mehr. Auch das Trio ist nicht mehr in der Lage, das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen – und so geht jede Schwester allein ihrer Wege. Auch das eine Phase der „Selbsterkenntnis“. Dass die drei am Ende doch gemeinsam auf der Hallig aufschlagen, weiß der Zuschauer bereits durch das Film-Intro. Die „Lösung“ gerät den Autoren Nadine Gottmann und Sebastian Hilger, der auch Regie führte, angenehm individuell, sehr leise und mit Gefühl, gelebtem Gefühl, das im Spiel der Schauspieler sich vermittelt und sehr viel überzeugender ist, als Erklärungen und Entschuldigungen in diesem Moment sein könnten. Denn eigentlich will ja jene Philomena nur geliebt und in den Arm genommen werden.
Soundtrack:
Fyfe Dangerfeld („So Brand New“ / „Faster Than The Setting Sun“), Metallica („Nothing Else Matters„), Dan Auerbach („Goin‘ Home„), Aaron Tveit & Eddie Redmayne („Do you Hear The People Sing„), Monkees („Daydream Believer„)
Foto: Degeto / Maor Waisburd
Foto: Degeto / Maor Waisburd
„Familie ist kein Wunschkonzert“ erzählt in erster Linie diese berührende Geschichte um eine nach ihrer Identität suchenden Frau. Mag sich zu Beginn dieses Gefühl des Andersseins, das Philomena nie los werden konnte, dem Zuschauer nur unzureichend vermitteln, so ist es Gro Swantje Kohlhof, die in ihrem feinfühligen Spiel der sprunghaft spontanen jungen Frau viele Nuancen ihrer verletzten Persönlichkeit aufschimmern lässt. Es gibt zwar wenig explizite Szenen, in denen die Vergangenheit die Figur einholt, aber zahlreiche Situationen wie beispielsweise eine überaus eindringliche nächtliche Beerdigungsszene einer toten Maus, in denen die Verletzung Philomenas spürbar wird. Und so ist Kohlhof das Herz dieser sympathischen Dramödie – selbst wenn das Road-Movie auch den anderen Schwestern lebenswichtige Entscheidungen abverlangt. Deren Rollenbilder kommen allerdings über soziale Stereotypen nicht hinaus. Da müssen dann Claudia Eisinger und Karin Hanczewski viel Augen-Arbeit leisten, damit ihre Geschichten nicht als wohlfeile Läuterungsplots erscheinen. Clever ist das Wechselspiel zwischen den Schwestern eingefädelt. Geschickt ist auch, wie die Nebenfiguren Rick und die französische Tramperin Charlotte für die Handlung „genutzt“ werden, wie sie als Spiegel für die Emotionen prinzipiell misstrauende Kristin und für die in gesellschaftlichen Konventionen erstarrte Laura fungieren, dann aber aus dem Geschehen genommen werden, damit sich am Ende alles auf den Hauptkonflikt konzentrieren kann. Die Zeitachse funktioniert für einen Debütfilm also erstaunlich gut. Da ist man dann auch bereit, über kleine dramaturgische Patzer en detail hinwegzusehen (was soll die überflüssige Sache mit dem Beinahe-Radunfall zu Beginn? Wie findet Rick seine verlorenen Begleiterinnen?).
„Familie ist kein Wunschkonzert“, der erste Film, der im Rahmen des Stoffentwicklungs-Preises „Impuls 2014“ der Degeto entstanden ist, setzt erwartungsgemäß auf jüngere Charaktere und verzichtet auf die in tragenden Nebenrollen besetzten üblichen Alibi-„Erwachsenen“. Die Eltern der jungen Frauen sind nicht unwichtig für die emotionale „Glaubwürdigkeit“ der Geschichte, ihre Beziehung aber interessiert nicht. Als Zuschauer will man auch nicht viel von der Vorgeschichte wissen, man kann sich vieles denken: Man will nur, dass für Philomena alles einen nicht allzu schmerzlichen Ausgang nimmt. Durch die 1A-Besetzung dieser Mini-Rollen mit Steffi Kühnert und Steffen Münster ist mehr gewonnen als mit nervösen Lippenbekenntnissen der Eltern. Ein paar Gesten, ein verunsicherter Blick, eine Umarmung – das reicht um dieser Dramödie ein stimmiges Ende zu geben. Wie so oft in guten Filmen der leichten Gangart sagen im Zweifelsfall Bilder ohnehin mehr als Worte. Das trifft bei diesem ARD-Freitagsfilm ganz besonders auch auf die Bildgestaltung zu. Christoph Chassée zaubert eine Vielzahl an interessanten Stimmungen: Da ist das Spätsommerlicht auf der Hallig; das ist der brennende Feuerwehrwagen in der Pampa, dazu der blaue Himmel, die Weite und der entsetzte Blick der Figuren ganz nah, eine Sequenz, die aussieht wie ein kurzer Traum vom amerikanischen Kino („Thelma & Louise“ lassen grüßen); oder da ist jene Mausbeerdigung, ein nächtliches Zwiegespräch der Schwestern in gedeckten Farben und ebensolcher Stimmung. Beispielhaft für das gelungene Miteinander aus Bild und Wort ist das Intro, das noch vor dem Erscheinen des Filmtitels sagt, was Sache sein wird in der folgenden Geschichte und das verbal und visuell so knapp & klar macht, dass diese Ich-Erzählung im Gegensatz zu den zahlreichen „Ich und meine Welt“-Komödien kein bisschen nervt. Und immer wieder wechseln totale mit nahen Einstellungen. Denn was wäre in einem Road-Movie der Mensch ohne Landschaft und die Landschaft ohne Mensch. (Text-Stand: 13. 4. 2017)
Foto: Degeto / Maor Waisburd