Nacht für Nacht kämpfen sie um die Bettdecke: Oma und Enkeltochter. Während sich die achtjährige Tilda darin eingewickelt zur Seite rollt, bleibt für die Mittfünfzigerin Anne nicht viel mehr als ein Deckenzipfel. Sie zerrt und schiebt, bis der eigene Körper wieder halbwegs bedeckt ist – doch kurz darauf beginnt das allnächtliche Spiel wieder von vorne. Und nicht nur vom Oberbett, auch von der Matratze nimmt sich Tilda für Annes Geschmack zu viel, rückt ihrer menschenscheuen Oma im wahrsten Sinne des Wortes auf die Pelle. Weshalb es Anne schließlich mit einer Art Grenzmauer aus Kissen versucht: Dort ist deine Seite, hier meine! Was genauso wie all ihre anderen Versuche, Distanz aufzubauen, zum Scheitern verurteilt ist. Vor allem, weil sich Anne selbst verändert: Am Ende wird sie die Enge und zwischenmenschliche Wärme in ihrem Bett nicht mehr missen wollen… Die körperliche Auseinandersetzung um die Nachtruhe ist ein Sinnbild für Annes Emotionen, ihr plötzlich ganz neues Leben. Für die ungewohnte Herausforderung, teilen zu sollen, sich anpassen zu müssen, flexibel zu sein. Denn Anne (Meret Becker) gibt die Ersatzmutter für ihr Enkelkind (Luise Landau), während ihre Tochter Julia (Emma Bading), Tildas Mama, eine Haftstrafe absitzt. Was das zurückgezogene Leben der eigenbrötlerischen, kratzbürstigen Frau, die einen leicht heruntergekommenen Hof im Brandenburgischen bewohnt, völlig auf den Kopf stellt.
Foto: ZDF / Nik Konietzny
Zunächst aber ist da die titelgebende Ankündigung „Familie is nich!“, mit der Anne ihre Enkelin, von deren Existenz sie bis wenige Minuten zuvor gar nichts wusste, gleich mal einzunorden versucht. Eigentlich sollte Tilda bei Julias Freundin Mariam (Banafshe Hourmazdi) unterkommen, doch die ist überfordert – und wendet sich an Anne. Demonstrativ unwillig nimmt die das Mädchen auf, mit dessen Mutter sie sich einst (wie mit den meisten ihrer Mitmenschen) überwarf. Als Julia erfährt, wo ihre Tochter mittlerweile lebt, setzt sie denn auch alle Hebel in Bewegung, sie dort wieder wegzuholen. Bloß: Die eigenwillige Anne und die nicht minder willensstarke Tilda haben sich da längst schon aneinander gewöhnt, ja, gegenseitig ins Herz geschlossen. Weshalb Anne den geliebten Wald ihres schmerzlich vermissten toten Mannes Matti verkauft, finanziell gut ausgestattet vor Gericht zieht – und gewinnt. Tilda darf fürs Erste bei ihr bleiben. Bis Julia wieder aus dem Gefängnis kommt.
„Familie is nich“ erscheint zwar auf den ersten Blick als Familiendrama, ist im Grunde aber vor allem ein Porträt. Der Film handelt von einem Menschen in Bewegung, einer Frau, die sich verändert, von der Vergangenheit löst und für andere öffnet, und damit – um es etwas pathetisch auszudrücken – gewissermaßen von deren Menschwerdung. Die verhärtete Frau, die sich auf ihrem Hof wie in einer Zeitkapsel eingerichtet hat und bis auf ihr Pferd nichts und niemanden zu brauchen scheint, lässt mit ihrer Enkeltochter nicht weniger als das Leben selbst durch ihr rostiges Hoftor. Mit hindurch zwängen sich hier noch ein paar weitere Menschen: Holger (Florian Lukas) etwa, Bürgermeister der kleinen Ortschaft im Berliner Norden und ein alter Freund der Familie, der Anne auf so stille wie beharrliche Weise umwirbt.
Foto: ZDF / Nik Konietzny
Ruhig und unaufgeregt umkreist „Familie is nich“ eine gute Handvoll Personen, fast alle von ihnen weiblich, mitsamt der Narben, Verwerfungen und Schuldgefühle, die ihnen das Leben so mitgegeben hat. Doch geht es eben auch um die Schwingung, die durch die Präsenz eines Kindes, ein wieder freigelegtes Gefühl von Verantwortung und Familie (ein Konzept, das hier selbstverständlich auch Freunde umfasst) entsteht. Das Drehbuch von Andrea Deppert und die Inszenierung von Nana Neul beschwören im Zusammenspiel mit Kamera, Setdesign und dezenten Western-Anklängen überzeugend die Atmosphäre eines brandenburgischen Sommers herauf, in die sich die gut gezeichneten und gespielten Figuren stimmig einfügen. Allen voran die von Meret Becker wunderbar verkörperte, schroffe und doch anrührende Figur der Anne.
Einzig deren Sinneswandel von der ablehnenden zur fürsorglichen Großmutter kommt etwas abrupt; doch dafür können die an dieser Stelle etwas holzschnitthaft geratenen Gewerke Buch und Regie mehr als die Schauspielerin. Überhaupt schmälern kleinere dramaturgische Holperer sowie eine gelegentlich zu deutliche Erzählweise das Vergnügen an „Familie is nich“ leicht, könnte die Story etwas mehr Subtilität vertragen. Doch am Gesamteindruck einer schönen, im besten Sinne „kleinen“ und unsentimentalen Geschichte über drei Generationen eigenwilliger, unkonventioneller und temperamentvoller Frauen ändert das nur wenig.
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Ein wunderbarer leiser und in der heutigen Zeit umso wichtigerer Film. Dank an alle Beteiligten, allen voran eine großartig spielende Meret Becker, aber ebenso ihre Filmenkelin Luise Landau und -tochter Emma Bading. Florian Lukas überzeugt als unaufgeregter und zutiefst menschlicher Bürgermeister, alleine für sein Spiel sollte der Film Pflichtstoff für alle Politiker und Amtsschimmel sein. Der Kalaallit Schamane Angaangaq aus Grönland reist seit Jahren durch unsere Welt und wirbt dafür das Eis in unseren Herzen zu tauen. Dieser Film beschreibt wie es gehen könnte.