Der Alltag mit Christina (Julia Richter) und ihren Kindern läuft, die Beziehungen haben sich für Ella (Annette Frier) auf einem für sie verkraftbaren, fast schon angenehmen Level eingependelt – bis zwei Hiobsbotschaften die autistisch veranlagte Juristin aus dem Tritt bringen. Zum einen zieht Nils (Marc Ben Puch), der Ex von Christina und Vater von Ben (Oscar Brose), vorübergehend bei ihnen ein, und dann verabschiedet sich Freund Jannis für einige Wochen eines lukrativen Handwerkerjobs wegen in Richtung Griechenland. Damit nicht genug: Hans Kollkamp (Rainer Reiners), der Anwalt, bei dem Ella ihr Referendariat absolviert, hat sich freudestrahlend ein Klavier bestellt, nicht ahnend, was er damit bei ihr auslöst. Und dann noch dieser Börnfeld (Oliver Bröcker), mit dem Ella heftig aneinandergerät! Er schüttelt sie und brüllt – und sie findet darauf keine passende Antwort. „Man muss sich immer wehren können“, weiß die kleine Klara (Zora Müller) – worauf Ella in deren Kung-Fu-Stunde reinschnuppert und Gefallen findet an dieser klaren Form der Kommunikation; aber auch der Trainer (Oliver Stein) hat was, mehr als nur eine „gut entwickelte Gesäßmuskula-tur“. Aber irgendwas muss Ella falsch verstanden haben. Oder war die Schnapsbatterie dran schuld, dass sie beim zweiten Aufeinandertreffen mit Ulf Börnfeld wenig ladylike reagiert?
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
Wer gedacht hätte, die ZDF-Sonntagsfilmreihe „Ella Schön“ würde sich nach der Konsolidierungsphase von sechs Episoden ganz dem Alltag im beschaulichen Ostseebad Fischland hingeben, würde „die neurologisch bedingte Wesensart“, wie die Titelfigur selbst den Autismus bezeichnet, mit ein paar launigen, kontrastkomischen Dialogwechseln abhandeln und zur Normalität werden lassen – der sieht sich angenehm getäuscht. „Land unter“ und „Familienbande“ gehen, was die Psychologie der Titelheldin angeht, ans Eingemachte: Wiederbelebt wird ein Kindheitstrauma, außerdem kommen massive Verlustängste ins Spiel. Das Ganze bleibt aber im Rahmen der „Herzkino“-Philosophie: Die Probleme gehen nicht zu tief und man muss als Zuschauer nicht Schlimmstes befürchten. Dass man nie den Eindruck haben muss, die beiden Stammautoren der Reihe, Simon X. Rost und Elke Rössler, würden nur strategisch mit den Momenten des Dramas hantieren, dass ein dramaturgisches Kalkül also nicht spürbar wird, sondern man als Zuschauer*in ganz bei den Charakteren und ihren Geschichten bleibt, das ist entscheidend für die Ausnahmestellung, die diese Reihe der Dreamtool Entertainment im aktuellen deutschen Unterhaltungsfernsehen besitzt. Das Augenmerk vom Fall stärker auf die durchgehenden Figuren zu lenken, beispielsweise in „Land unter“ die Heldin selbst zu ihrer eigenen Klientin zu machen oder in „Familienbande“ die Ladenbesitzerin Henny (Gisa Flake), eine Frau mit einem viel zu guten Herzen für ihre Parasiten-Family, ist eine gute Idee, und die juristischen Fälle wie immer schon über die privaten Plots zu stellen, eine noch bessere. Die ZDF-Reihen „Ein Tisch in der Provence“ oder „Nächste Ausfahrt Glück“ machen das nun erfreulicherweise ähnlich.
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
Neben dieser strukturell-narrativen Grundausrichtung sind es einmal mehr die präzise Zusammenarbeit aller Gewerke und die daraus entstehenden liebevollen Details, von den Autoren klug vorgedacht und von Regisseur Holger Haase und Kameramann Hendrik A. Kley (zuletzt: „Polizeiruf 110 – Bis Mitternacht“) perfekt umgesetzt, die die neuen Episoden zu einem filmischen Leckerbissen haben werden lassen. Handlung und Landschaft verschmelzen zu einer Einheit, ja, selbst als nur Beobachter*in scheint man dieses Fischland mittlerweile zu kennen, seine wiederkehrenden Figuren, seine Orte, seine Stimmungen. Wie gut die Szenenabfolge auch dramaturgisch ist, lässt sich so richtig erst retrospektiv erkennen. Und dann gibt es immer wieder diese kleinen Momente, diese beiläufige und mit einem leichten Augenzwinkern präsentierte Alltäglichkeit. Häufig zwischen Christina und Klara: „Vier in Mathe?“, so die Multitasking-fähige Mutter ungläubig. Darauf Klara, die zuvor leise im Vorbeigehen die Vier fallengelassen hat: „Du hast es gehört? Schade, ich dachte es geht irgendwie unter.“ Sagt’s und schlurft weiter. Das gleiche Bild nach dem Kung-Fu-Training: „Wie war’s?“ – „Gut“ – „Magst jetzt duschen?“ – „Nö.“ Solche Sekunden-Situationen geben nicht nur präzise Alltag wider, sondern sie relativieren das ernsthaftere Erzählte, geben diesem eine andere Stimmungsnuance und beeinflussen entsprechend auch die Wahrnehmung des Publikums. Apropos Wahrnehmung: Selbst ohne einen auf filmästhetische Nuancen geschulten Blick dürften auch die wunderbaren, immer wieder sinnlich aufregenden optischen Lösungen, wenn auch nicht ins Auge fallen, so doch unterbewusst rezipiert werden: ein Top-Shot zur rechten Zeit, eine Totale, die die Geschichte miterzählt, die Ausstattung, das Kostümbild oder die Maske, die das Wesen der Heldin markant auf den Punkt bringen.
Foto: ZDF / Rudolf Wernicke
Die Titelfigur mit ihrer speziellen, medizinisch nicht ganz korrekten Form des Asperger-Syndroms ist und bleibt ein weiteres Alleinstellungsmerkmal von „Ella Schön“. Der Zuschauer ist nah bei dieser Figur, fühlt mit ihr, ohne sie voll und ganz zu verstehen. Im Gegensatz zu einigen ihrer Mitmenschen ist er mit ihr allerdings meist auf Augenhöhe, so weiß er mehr über ihren Tic in „Land unter“ als alle anderen, kennt aber dessen Hintergründe nicht. Und in „Familienbande“ wird man Zeuge und damit Verbündeter von ihrem hinterhältigen Plan, sich zwischen ihre Freundin Christina und Nils zu drängen. Irgendwann aber fasst die an sich extrem ehrliche Haut – ausgenommen, es geht um ihre tiefsitzenden Verlustängste – sich ein Herz und lässt alles raus, was sie stört und wovon sie enttäuscht ist. Verstand vs. Gefühl, das sind die Pole, zwischen denen die Geschichten weiterhin vermitteln. Da ist die bald überschwänglich wieder in ihren Nils verliebte Christina, da Ella, die vom Kopf gesetzte Regeln und Gesetze liebt, weil sie das Leben strukturieren. Ella weiß um die Wichtigkeit von emotionalen Beziehungen, aber sie weiß es eben nur. Weil zum Autismus auch noch ein Tic hinzukommt, arbeitet sie an sich. Dass sie es mit „Ving Tsun“, einer Kung-Fu-Variante, versucht, ist eine stimmige Buchidee. So will die Heldin ihre unkontrollierten Bewegungsabläufe in kontrollierbare umwandeln. Auch ästhetisch passt dieser Sport gut ins Bild: Regeln und ein reduzierter Übungsraum, ähnlich klar konturiert wie Ellas Wohnraum.
Am Ende der achten Episode bleibt es spannend in dieser etwas anderen Familien-Reihe. Die Beziehung mit (dem untreuen) Jannis bleibt offen. Das Verhältnis zu Christina scheint sich zu stabilisieren, aber was ist schon stabil bei „Menschen ohne einen Plan“, würde wohl Ella Schön dazu sagen. Solche Menschen „neigen zu emotionalen Krisen, irrationalen Ausnahme-Situationen und starken Stimmungsschwankungen“. Das lässt die Heldin ausgerechnet zu Beginn der ersten neuen Episode (im Übrigen eine clevere Exposition für „Ella Schön“-Neueinsteiger) vom Stapel, in der sie völlig die Kontrolle über ihr Leben verliert und mit dem Gedanken spielt, sich selbst in eine Klinik einzuweisen. Spannend ist es aber auch (und daran wird sich hoffentlich auch in den Mitte Oktober abgedrehten Filmen neun bis elf nichts ändern), weil bei allen Lernerfolgen Ella immer Ella bleiben und somit für Verblüffung und Brechung des Heldinnen- und Helferinnen-Images sorgen wird … „Wie ist er so?“, dieser Kung-Fu-Trainer, will Christina wissen. Ella: „Seine Ansprache ist präzise“ Da kann Christina nur den Kopf schütteln. „Seine Ansprache… Ist er nett? Wie sieht er aus? Hat er einen Knackarsch?“ Endlich scheint Ella zu verstehen: „Seine Gesäßmuskulatur ist gut entwickelt.“