Ella Schön – Die nackte Wahrheit / Sturmgeschwister

Annette Frier, Julia Richter, Rost/Rössler, Balthasar. Die Frau fürs Wahrhaftige

Foto: ZDF / Marc Vorwerk
Foto Rainer Tittelbach

Die ZDF-Reihe „Ella Schön“ (Dreamtool Entertainment) bleibt auch ein Jahr nach dem viel beachteten Traumstart ihrer Titelfigur treu. Der Alltag gibt dieser mit dem Asperger-Syndrom lebenden Anwaltsreferendarin zwar mehr und mehr die für sie so lebenswichtige Struktur, sie bleibt aber ein eigenwilliger Charakter, eine Frau, die es sich und anderen nicht leicht macht. Dramaturgisch gibt es keine Weichspülversuche – trotz „Herzkino“-Sendeplatz. Die Fälle, die Charaktere & die luftige Inszenierung ergeben einen perfekten Flow und machen „Ella Schön“ zur besten Unterhaltungsfilmreihe der letzten Jahre – auch, weil die Geschichten nicht auf Vorurteile & Klischees setzen und nicht auf die im Genre üblichen dramaturgischen Selbstheilungskräfte vertrauen. Wer will, der kann auch die dekonstruktive Kraft feiern. Unbedingt loben muss man das wunderbare Spiel von Annette Frier & Julia Richter.

Freundschaft, Liebesbeziehung und Arbeit: die Struktur im Leben der Ella Schön
Ella Schön (Annette Frier) wird auf Fischland bleiben. Denn der Alltag hier bekommt für die Frau, die unter dem Asperger-Syndrom leidet, langsam die für sie so lebenswichtige Struktur. Und auch wenn sie es nicht gut zeigen kann: An das Wohnen bei Christina (Julia Richter), der heimlichen Zweitfrau ihres verstorbenen Mannes, hat sie sich mehr als nur gewöhnt, und der Umgang mit deren beiden größeren Kindern, Teenager Ben (Maximilian Ehrenreich) und Erstklässlerin Klara (Zora Müller), die einen Narren an dieser so verlässlichen Person gefressen hat, tut ihr gut. Und dann sind da ja noch die Liebe und die Arbeit. Zwar verabredet sie sich mit Jannis (Josef Heynert), spielt mit ihm Schach und sie haben Sex miteinander, die Bedürfnisse der beiden sind jedoch grundverschieden. Ella bringt es auf den Punkt: „Genauso wie du eine Sehnsucht nach Nähe und Zusammensein verspürst, brauche ich immer wieder Distanz und Ruhe, um zufrieden zu sein.“ Mit ihrer Referendarinnenstelle bei Anwalt Kollkamp (Rainer Reiners) läuft es dagegen sehr viel besser. Ellas libidinöses Verhältnis zu Paragraphen und Mathematik ist dabei meist hilfreich. In einem vermeintlichen Fall von vaskulärer Demenz, der sich zu einem komplizierten Vater-&-Söhne-Fall ausweitet, ist ihre Inselbegabung, das Operieren mit Parametern & Prozenten, das A&O für einen glücklichen Ausgang. Weniger geschickt stellt sich die Frau, die emotionale Zwischentöne nur schwer entschlüsseln kann, bei einem Fall an, bei dem sie zwei minderjährige Schwestern (Zsa Zsa Hansen, Anais Cherif) vor Gericht gegen ihre Eltern (Ursula Renneke, Nico Rogner) und gegen das Jugendamt vertreten möchte und dabei die Chancen einer Mediation geringschätzt.

Ella Schön – Die nackte Wahrheit / SturmgeschwisterFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Schnell eben mal was übergehängt, nachdem Holger Packebusch (Hilmar Eichhorn) nackt durchs Dorf marschiert ist. Die Reihe ist für „Herzkino“-Verhältnisse nicht prüde. FKK bleibt FKK, da muss selbst die Anwältin ablegen.

Figur wie Reihe vertrauen nicht auf Vorurteile, Klischees & Selbstheilungskräfte
Gerade an dieser zweiten Episode von 2019, „Sturmgeschwister“, lässt sich gut erkennen, was die ZDF-Reihe „Ella Schön“ von den Filmen des grassierenden öffentlich-rechtlichen Helfersyndrom-Unwesens unterscheidet. Dass Kinder am Ende der emotionalen Nahrungskette stehen, dass sie sich dem Druck von oben beugen müssen, dass sie kaum eine Chance haben gegen ihre Eltern, dass immer sie die Leidtragenden sind, wenn soziale Ungerechtigkeit oder elterliches Versagen die Familieninteraktion stören, und dass Kinder im Alltag immer wieder mit beschwichtigenden Ausreden vertröstet oder mit Vernunftargumenten überzeugt werden sollen und damit zum frühzeitigen Erwachsensein genötigt werden: Solche Botschaften kann es – wenn auch nicht in dieser beiläufigen Klarheit – durchaus auch in den naiven Alles-wird-gut-Reihen oder herkömmlichen Anwaltsserien geben, der Weg, der den Zuschauer zu dieser gewiss nicht neuen Erkenntnis führt, ist allerdings in Kombination mit der eigenwilligen Heldin ein anderer. Diese Ella Schön guckt genauer hin. Sie hinterfragt die Dinge, gibt sich nicht mit den Mythen des Alltags, mit Gemeinplätzen („Sind halt Kinder“) und Vorurteilen („So sind Teenager!“) zufrieden. Nur so kommt sie den Versäumnissen der Eltern auf die Spur (Stichwort: Ko-Abhängigkeit). So wie sie sich von den Versprechungen der Besserung gelobenden Eltern nicht beschwichtigen lässt, so vertrauen auch die Geschichten dieser Reihe nicht auf die dramaturgischen Selbstheilungskräfte des „Herzkinos“ oder vieler „Endlich-Freitag“-Dramoletts. Um eines jener Lösungsklischee kommt allerdings auch die aktuell beste Unterhaltungsfilmreihe des deutschen Fernsehens nicht herum: Wie überzeugt man uneinsichtige Menschen, Sturköpfe, Kranke? Indem man ein noch größeres Problem (ein Todesfall wird immer gern genommen) auffährt oder wie in „Sturmgeschwister“ mit ihm um die Ecke winkt. Als der Vater seine Frau beinahe anfährt, macht es klick im Kopf – und der Verdrängungskünstler kann seine tief empfundene Scham auf einmal zugeben.

Ella Schön – Die nackte Wahrheit / SturmgeschwisterFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Die Sache mit der Liebe haut auch beim zweiten Anlauf nicht so richtig hin: Ella (Annette Frier) und Jannis (Josef Heynert). Die visuelle Anmutung dieser Szene (das Wetter, das Licht, das Szenenbild, die Kamerastandpunkte) ist umso besser gelungen.

Die dekonstruktive Kraft von „Ella-Schön“: Anders als alle anderen
Auch für die neuen Episoden gilt, was im Text zu den „Ella Schön“-Episoden „Die Inselbegabung“ & „Die Sache mit der Liebe“ von mir im Frühjahr 2018 analysiert wurde. „Diese Frau ist eine Zumutung für ihre Umgebung – und eine Herausforderung für den „Herzkino“-Zuschauer, der seine Gewohnheit liebt. Aber gerade das ist der Glücksfall dieser neuen Reihe, die dem grassierenden Helfersyndrom im öffentlich-rechtlichen Dramödien-TV eine intelligente Abfuhr erteilt.“ Und wer die Reihe noch nicht kennt, für den kann sicherlich auch die Charakteristik der Titelfigur hilfreich sein: „Diese Ella Schön ist anders. Sie ist offen, ehrlich, sie sagt, was sie denkt, ist aber weitgehend beziehungsunfähig. Sie kann Gefühle bestenfalls verstehen, aber nicht wirklich begreifen und (aus)leben. Auch der Code menschlicher Gemeinschaft ist ihr fremd. Sie kann nicht lügen, nicht einmal freundlich sein, wenn sie es mit Menschen zu tun bekommt, die ihr unangenehm sind. Ella Schön leidet unter dem Asperger-Syndrom.“ Neueinsteiger in die Reihe dürften allerdings keine Probleme haben. Schade trotzdem, dass ZDF, ZDFneo oder 3sat nicht auf die Idee gekommen sind, die beiden ersten Episoden im Vorfeld der Neuausstrahlungen zu wiederholen. So was nennt man Service.

Ella Schön – Die nackte Wahrheit / SturmgeschwisterFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Gefühle? Auch wenn Ella die Briefe ihres verstorbenen Mannes auswendig kennt, war es doch keine schlechte Idee von Christina, sie wieder aus der Mülltonne zu holen.

Die Fälle, Ellas Eigensinn & die luftige Inszenierung ergeben einen perfekten Flow
Obgleich sich die Titelfigur an den Buchstaben des Gesetzes (fest)hält, haben die Geschichten auch immer etwas mit ihr zu tun. So könnte sie beispielsweise die Situation der Kinder an ihre eigenen Erfahrungen von Ohnmacht und Ablehnung erinnern. In „Die nackte Wahrheit“ ist es vor allem die Frage, ob sich Zuneigung und Liebe einem Ranking unterziehen lässt. Wen liebt dieser FKK-Geschäftsführer Holger Packebusch (Hilmar Eichhorn), bei dem nach einem Dorfausflug im Adamskostüm das Anfangsstadium der Demenz diagnostiziert wird, mehr: seinen Sohn Maik (Stefan Rudolf), der mit ihm seit Jahren das Familienunternehmen mit 25 Mitarbeitern schmeißt, oder den schon vor vielen Jahren in die USA ausgewanderten Sohn Kurt (Christoph Letkowski)? Sensibilisiert für diese entscheidende Frage, hinter der mal wieder einer dieser Mythen des „gesunden“ Menschenverstands steckt (Eltern haben ihre Kinder gleich lieb), bringt die Heldin bald auf die Frage, wen wohl ihr Mann Thomas mehr geliebt hat, Christina oder sie? Schwer zu sagen. Eine klarere Antwort bekommt sie auf andere Fragen: Weshalb hat Packebusch kein CT machen lassen, und weshalb taucht ausgerechnet jetzt sein verlorener Sohn auf? Die Antwort sorgt für eine originelle Wendung, wie man sie allenfalls aus einer Top-Serie wie „Danni Lowinski“ kennt. Die Mischung der Themen und der Plots (Familie/Freundschaft, Beruf/Fall, Beziehung/Liebe) funktioniert in den neuen Filmen also genauso gut wie beim Start der Reihe. Wie selbstverständlich fließen die Geschichten ineinander. Nicht zuletzt auch die sommerliche Outdoor-Atmosphäre und die locker-luftige Inszenierung der vielseitigen Regisseurin Christiane Balthasar (von „Der Wagner-Clan“ über 7x „Kommissarin Heller“ bis zu „Bier Royal“) tragen mit zum harmonischen Gesamtbild der „Ella-Schön“-Filme bei. Um zwischen Szenen überzuleiten bedarf es da nicht des üblichen Popsongteppichs. Lieber setzt Komponist Maurus Ronner auf einen zeitlos guten Easy-Listening-Score. Wenn bekannte Titel eingespielt werden, dann trägt das auch maßgeblich zur (gehobenen) Stimmung der Figuren bei: Das Drachensteigenlassen zum Einstieg in „Sturmgeschwister“ wird untermalt von „Eight Miles High“ der Byrds; der Ausstieg aus „Die nackte Wahrheit“ geht mit Talking Heads‘ „Road To Nowhere“ augenzwinkernd vonstatten, derweil sich die Frauen über „Spaß als Humorfarbe“ und „heitere Gelassenheit“ austauschen.

Ella Schön – Die nackte Wahrheit / SturmgeschwisterFoto: ZDF / Marc Vorwerk
Das Engagement für die Rechte der Kinder ist in „Ella Schön“ mehr als ein wohlfeiles Sujet. Die Szene oben ist eine der besten des Films. Vier „Parteien“ sind im Spiel, Blicke regeln das Geschehen und alle Themen des Films kommen fast wortlos zur Sprache.

Gegensätze ziehen sich an – und Frier & Richter füllen sie hinreißend mit Leben…
Launig zieht sich der Gender-Diskurs durch die neuen Episoden. Weil Ella Schön nach Karlas Einschulung mit Christina zur Elternversammlung geht und sich dort zur Elternvertreterin wählen lässt, tuschelt bald das ganze Dorf darüber, ob die beiden ein Paar sind. Die Heldin geht das „Problem“ auf ihre Art an und stellt ohne Not gleich mal vor den Damen die Rechtslage klar – und sorgt damit für noch mehr Verwirrung: „In Deutschland existieren übrigens keine Gesetze mehr, die Homosexualität sanktionieren. Auch die Ehe steht seit Oktober 2017 gleichgeschlechtlichen Paaren offen.“ Auf Grundlage dieses vermeintlichen Comingout gibt es im zweiten Film mehrere Szenen, die außenstehende Figuren als eine Bestätigung für die Liebesbeziehung zwischen Ella und Christina verstehen („Wir sind für alle Lebensformen offen“). Die Klischees passen für die Fischländer einfach zu gut ins Bild: Verstand, Ordnung, Struktur vs. Gefühl, Chaos, Fluss. Früher wurden diese Pole menschlicher Mentalität gern dem Wesen von Mann und Frau zugesprochen, später dann wurden sie sogar auf gleichgeschlechtliche Beziehungen als gängiges Muster übertragen. Das mag überholt sein, nicht überholt ist bei elegantem Gebrauch dieses Gegensatzpaares der dramaturgische Nutzen für gut funktionierende Geschichten: Das Hirn und der Sonnenschein, der Kopf und der Bauch, der Ernst und das Lächeln, das Nein und das Ja… Ella und Christina sind ein hinreißendes „Paar“, und Annette Frier und Julia Richter eine traumhafte Kombination. Da scheint sogar die Bürgermeisterin (Tanja Schleiff) ein bisschen eifersüchtig auf die beiden zu sein. Mit argwöhnischen Blicken beäugt sie deren Treiben. Eine Kuchenverkostung, die sie auf die Entfernung als ein amouröses Fütterungsspiel missdeutet, wird ganz am Ende wunderbar augenzwinkernd aufgelöst. Ein bisschen Diplomatie hat Ella, die alles so schön genau nimmt und noch schöner penetrant sein kann, offenbar schon gelernt. Obwohl, in der Schlussszene setzt sie gerade an, um das Gewonnene (die Betriebsgenehmigung für Christinas Café) wieder aufs Spiel zu setzen, doch da fährt ihr ihre Mitbewohnerin noch rechtzeitig über den Mund. Und was ihr Feingefühl angeht, auch da ist alles beim Alten. Als sie Christina und ihren neuen Lover im Bett überrascht, fällt ihr statt eines „Hallo, ich bin Ella“ etwas völlig anderes ein: „Ich hoffe der Verkehr war geschützt. Christina hat bereits drei Kinder, ein viertes würde unseren organisatorischen und finanziellen Rahmen sprengen.“ Apropos Sex: Prüde ist Ella Schön nicht. So war die Basis der Beziehung zu Ehemann Thomas „Freundschaft, Freiheit, regelmäßiger Sex.“ Und als Jannis – etwas verlegen – mit ihr ein gemeinsames Abendessen anregt, will sie es ganz genau wissen: „Der leichten Pause, die du vor Abendessen gemacht hast, entnehme ich, dass dir mehr als nur eine gemeinsame Mahlzeit vorschwebt. Gibt es zu diesem Termin gegebenenfalls auch die Möglichkeit, Sex zu haben?“ So autistisch komisch Ella Schön auch sein kann, sie behält stets ihre Würde. (Text-Stand: 8.3.2019)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

ZDF

Mit Annette Frier, Julia Richter, Rainer Reiners, Josef Heynert, Zora Müller, Maximilian Ehrenreich, Tanja Schleiff, Hilmar Eichhorn, Stefan Rudolf, Christoph Letkowski, Ursula Renneke, Nico Rogner, Zsa Zsa Hansen, Anais Cherif

Kamera: Eeva Fleig

Szenenbild: Adrienne Zeidler

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Andreas Althoff

Musik: Maurus Ronner

Redaktion: Corinna Marx

Produktionsfirma: Dreamtool Entertainment

Produktion: Stefan Raiser, Felix Zackor

Drehbuch: Simon X. Rost, Elke Rössler

Regie: Christiane Balthasar

Quote: (1): 4,65 Mio. Zuschauer (13,1% MA); (2): 4,52 Mio. (13,2% MA); Wh. (2020) (1): 4,12 Mio. (11,5% MA); (2): 3,60 Mio. (10,5% MA)

EA: 31.03.2019 20:15 Uhr | ZDF

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach