Eine mörderische Entscheidung

Matthias Brandt, Raymond Ley, Kunduz und die Verhältnismäßigkeit der Mittel

Foto: NDR / Cinecentrum / Ruhnau
Foto Klaudia Wick

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Das Doku-Drama „Eine mörderische Entscheidung“ rekonstruiert und interpretiert die Ereignisse von April bis September 2009 in Kunduz. Es geht in dem ARD-90-Minüter von Raymond Ley, der die Spielszenen ohne jede Wargames-Dramatik inszeniert, um die Befehlshaber oben in der Kommandozentrale und die Zivilisten unten am Flussufer. Es geht um richtige Einschätzungen, falsche Informationen und immer um die Frage, worin „Verhältnismäßigkeiten“ im Krieg eigentlich bestehen können. Und das alles in einer Form und mit einer filmischen Methode, die über alle Zweifel erhaben sind. Stark: Matthias Brandt

Der Film beginnt mit dem tragischen Ende. Eine Großaufnahme zeigt das verbrannte Gesicht eines Kindes. Es war im entscheidenden Moment am falschen Ort gewesen. Das kleine Glück, nach langem Warten endlich an der Reihe zu sein, um am Tanklaster den Kanister mit Benzin zu füllen, wurde für das Kind zum lebenslangen Unglück. Im deutschen Hauptquartier von Kunduz hatte Oberst Klein soeben einen folgenschweren Befehl erteilt. „Am 4. September um 1 Uhr 51“, so wird er später zu Protokoll geben, „entschloss ich mich, zwei am Abend des 3. September entführte Tanklastwagen sowie die am Fahrzeug befindlichen Aufständischen durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten.“ Matthias Brandt, der in „Eine mörderische Entscheidung“ den Bundeswehroffizier spielt, spricht Kleins auf Präzision angelegte Aussage mit tonloser, nicht unbeteiligter Stimme. Das Bombardement, so wird der Oberst vor dem Bundestagsuntersuchungsaussschuß „Kunduz“ betonen, sei nach seiner damaligen Bewertung „auftraggemäß richtig“ und somit „verhältnismäßig“ gewesen.

Eine mörderische EntscheidungFoto: NDR / Cinecentrum / Ruhnau
Oberst Kleins Begründung seines Befehls: „Gefahren für seine Soldaten frühzeitig abwehren.“ Einer von ihnen: der überforderte Jungspund Vincent (Ludwig Trepte)

Noch bevor der Titel eingeblendet ist, hat „Die mörderische Entscheidung“ des Offiziers den Rahmen abgesteckt, in dem sich das ARD-Dokudrama in den nächsten 90 Minuten bewegen wird: Es geht um die Befehlshaber oben in der Kommandozentrale und die Zivilisten unten am Flussufer. Es geht um richtige Einschätzungen, falsche Informationen und immer um die Frage, worin „Verhältnismäßigkeiten“ im Krieg eigentlich bestehen können.

Raymond & Hannah Ley haben ihren Film über den „Fall Kunduz“, der innen- und außenpolitische Folgen hatte, sehr genau austariert. Bevor sie auf das nächtliche Bombardement der Sandbank bei Kunduz zurückkommen, fächern sie aus verschiedenen Perspektiven die Vorgeschichte auf: In diesem Krieg, der aus Deutscher Sicht noch keiner sein darf, gelten die Deutschen bei ihren Verbündeten als zahnlose Tiger. Der Anschlagserie der Taliban hat die Bundeswehr im „Stabilitätseinsatz“ wenig entgegenzusetzen. Erst als mit dem Russlanddeutschen Sergej Motz der erste Bundeswehrsoldat im Einsatz stirbt, ändern sich die Vorgaben aus Berlin. Nun sind den Soldaten auch Todesschüsse erlaubt – aber natürlich nur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Mit den Worten „Wenn die Situation es erfordert, schießen Sie – und zwar nicht nur auf die Beine“ befiehlt Oberst Klein im Film seinen Soldaten die neue Gangart. In den Spielszenen zeigt das Dokudrama eindrücklich, wie das den Druck auf die Truppe erhöht, wie das Gefühl der Machtlosigkeit nun von einer gefährlichen Nervosität abgelöst wird, die zwangsläufig neue Tote auf beiden Seiten fordert.

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Das Bombardement nahe Kunduz war der blutigste deutsche Militäreinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg. In der Nacht zum 4. September 2009 sterben bis zu 140 Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten und Kinder.

„Eine mörderische Entscheidung“ zeigt den Entscheidungsprozeß in Kunduz nicht nur aus deutscher Warte. Neben den hochrangigen Gesprächspartnern aus Politik- und Militärkreisen gibt das Dokudrama auch den Angehörigen der Opfer eine Stimme. Nuria Gulbaschra verlor bei dem Bombardement ihren Sohn und zwei Enkel; Abdul Ghafar drei Brüder. Eltern trugen ihre Kinder zu Grabe, der Dorfschullehrer verlor zwölf seiner Schüler. Dass die Hinterbliebenen bereit waren, in einem Film der Deutschen ihrer Trauer und Verzweiflung Ausdruck zu geben, gehört zu den besonderen Produktionsleistungen von „Eine mörderische Entscheidung“. Die Bundeswehr wollte dagegen trotz mehrfacher Aufforderung keine Stellung beziehen, auch Oberst Klein schlug das Interview-Angebot aus. Dem Dokudrama schadet dieses Schweigen nicht, so oder so ist der Film in seinen Spielszenen minutiös den Recherchen des Untersuchungsausschusses und den Protokollen des Flugverkehrs mit dem F15-Bombern verpflichtet. Das „beinahe surreale Beamtendeutsch“, in dem Oberst Klein die Geschehnisse der Nacht schilderte, stellte Matthias Brandt nach eigenen Aussagen auf die größte Probe. Er spielt den Oberst sehr überzeugend und uneitel als den mausgrauen „Bürger in Uniform“, der im entscheidenden Moment alles falsch macht, weil er unbedingt alles richtig machen will. Den zögernden Befehlshaber umstellt Regisseur Ley mit einer Riege ehrgeiziger Berater: Matthias Koeberlin und Franz Dinda geben den erfolgshungrigen Soldaten der Task Force 47 ihr Gesicht. Aus dem multiperspektivischen Dokudrama wird nun unversehens ein bedrückend glaubhaftes Bunkerdrama, in dem Zeitnot und Entscheidungsdruck das Handeln aller Beteiligten bestimmt. Dass Oberst Klein den Einsatz nicht im Kreise seiner eigenen Berater leitete, hält Nato-Kommandeur Egon Ramms im Zeitzeugeninterview für einen Fehler.

Im Gefechtstand der hermetisch abgeriegelten Task Force 47 wird die Lage inzwischen als „unmittelbare Bedrohung“ für das Militärlager gedeutet, selbst als die Piloten der US-Bomber mehrfach ihre Zweifel äußern, dass eine solche Gefahrenlage tatsächlich besteht, bleiben die Deutschen bei ihrer Interpretation: dass nachts um halb zwei Kinder an den Tankern Benzin zapfen könnten, erscheint Obert Klein völlig abwegig. Die authentischen Bilder von Brandopfern aus dem Krankenhaus von Kunduz zeigen, dass er sich irrte. Der Film verurteilt ihn nicht, bezieht aber deutlich Stellung gegen die von ihm getroffene einsame Entscheidung. Die offene Form des Dokudramas lässt diese Differenzierung zu. Bei der Inszenierung der Spielszenen, die jede Wargames-Dramatik vermissen lassen, wurde jene Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt, die der Film selbst zum Thema hat. Dass die Gespräche der US-Piloten nicht im englischen Originalzitat mit deutschen Untertiteln gezeigt werden, gehört zu den wenigen Zugeständnissen an die Sehgewohnheiten, die der Film auf Kosten der Authentizität macht. Abseits dieser kleinen Fehlentscheidung, ist der Film, der nicht zuletzt von der Bedeutung des Zweifels handelt, über alle Zweifel erhaben. (Text-Stand: 27.7.2013)

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Fernsehfilm

Arte, NDR

Mit Matthias Brandt, Axel Milberg, Matthias Koeberlin, Ludwig Trepte, Stephan Schad, Franz Dinda, Vladimir Burlakov

Kamera: Philipp Kirsamer, Dirk Heuer, Resa Asarschahab

Szenenbild: Harald Turzer

Schnitt: Heike Parplies

Produktionsfirma: Cinecentrum Hannover

Drehbuch: Raymond Ley, Hannah Ley

Regie: Raymond Ley

Quote: ARD: 2,17 Mio. Zuschauer (7,9% MA)

EA: 30.08.2013 20:15 Uhr | ARD

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