Mona Doermer (Petra Schmidt-Schaller) und Greta Burmeester (Mina Tander) wären sich unter normalen Umständen wohl nie begegnet. Letztere ist Polizistin in einem verschlafenen Ort an der Ostsee, die andere ist eine alleinerziehende arbeitslose Mutter, die sich mit ihren beiden Kindern, dem viel zu erwachsenen Danny (Juri Winkler) und der kleinen Marlen (Lisa Marie Trense), auf der Flucht vor dem Jugendamt befindet und dabei in einem herbstlich verlassenen Seebad gestrandet ist. Der Grund für den Kontakt der beiden Frauen ist ein trauriger: Gleich in der ersten Nacht verschwindet die sechsjährige Marlen spurlos. Mona ist völlig aufgelöst, verdächtigt zunächst den Schausteller (Gerdy Zint), mit dem sie am Tag eine sexuelle Begegnung hatte, dann den merkwürdigen Hotelbesitzer (Axel Milberg), bei dem sie pädophile Neigungen erkannt zu haben glaubt. Greta versucht, die angespannte Situation zu beruhigen. Das fällt ihr nicht ganz leicht. Denn privat stürzt gerade vieles auf sie ein. Ihre eigenwillige Mutter (Judy Winter) macht ihr Sorgen, dagegen wäre ihre positiv entschiedene Bewerbung nach Berlin ein Grund zur Freude, doch ausgerechnet jetzt ist sie schwanger – und mit ihrem Freund Ole (Lucas Prisor) ist so gut wie nichts geklärt. Da kommt ihr dieser Fall wenig gelegen. Am nächsten Tag spitzt sich die Lage noch weiter zu: Ein Schuh von Marlen wird am Strand gefunden. Jetzt ist es für Greta an der Zeit, sich die konfuse Mutter vorzunehmen, die sich bislang vor allem dadurch auszeichnet, Unwahrheiten zu verbreiten.
Foto: NDR / Marion von der Mehden
Der Fernsehfilm „Eine gute Mutter“ erzählt von zwei Frauen, die nicht nur auf sehr unterschiedliche Weise ihr Leben bewältigen, sondern die auch mit dem Muttersein und dem Thema Familie völlig andere Erfahrungen haben. Die eine kommt mit ihrer Mutterrolle nicht zurecht, die andere steht vor der Entscheidung, ob sie die Verantwortung, Mutter zu werden, überhaupt übernehmen soll. Von Autor Christian Jeltsch als biographische Prägungen in die Geschichte eingebracht werden auch die Beziehungen zwischen den Müttern und den Töchtern. Die Polizistin mag lange die Verantwortung für die Mutter als Ausrede für die eigene existentielle Lethargie benutzt haben, dennoch ist sie das, was man eine gute Tochter nennen könnte. Ihre Mutter, von Judy Winter großartig gespielt als eine Art durchgeknallte Alt-68erin, will nicht umsorgt werden von ihr, sie würde es lieber sehen, wenn ihre Tochter mehr aus sich und ihren Talenten machen würde. Dagegen ist die Mutter der alleinerziehenden Mona eine kalte, empathielose Person, die ihre Tochter offenbar immer nur als Problem gesehen hat. Vermutlich war auch sie ähnlich überfordert mit ihr wie Mona jetzt mit ihren zwei Kindern – und als die 15-Jährige dann schwanger wurde und sie abtreiben sollte, war der Bruch unvermeidlich. Auffallend, dass Jeltsch nun wiederum die Tochter, die kleine Marlen, zu Monas Problemkind macht, das zur Unzeit Hunger und Durst hat („Jetzt nicht!“), während der für sein Alter viel zu vernünftige Fast-Teenagersohn Muttis Liebling ist, nicht zuletzt deshalb, weil er ihr ständig zur Hand geht und auf die kleine Schwester aufpasst. „Du bist der Mann im Haus“, stellt denn auch die Polizistin anerkennend fest – wozu im ersten Drittel des Films auch gehört, dass er Marlen ständig vor der Mutter verteidigt und glaubt, sie vor ihr schützen zu müssen. Der psychologische Unterboden ist also zutiefst stimmig und wird nicht mit Erklärungen überladen. Das ist das Schöne an dem Film. Man hat den Eindruck, er erzählt eine Geschichte, anstatt sich an Themen & Genremustern abzuarbeiten.
„Die gute Mutter“ ist ein Drama, das die Mittel des Krimithrillers nutzt, insbesondere die emotionale Ausnahmesituation, um in die „Familien“-Verhältnisse der Charaktere einzudringen. So entstehen zwei ebenso vielschichtige wie aufregende Frauenporträts, die Geschichte genug sind. Weil es die spezielle, ungesunde Familienkonstellation sehr treffend wiedergibt, ist das Motiv des Verschwindens mehr als nur ein dramaturgischer Trick, durch den der Plot das notwendige Mindestmaß an Finalität erreicht. Die narrative Architektur des Drehbuchs erinnert an die Miniserie „Das Verschwinden“. Auch in diesem Sechsstunden-Drama gipfelt die Suche nach der Tochter in der Frage „Bin ich eine gute Mutter?“. Sind es in dem Vierteiler acht erzählte Tage und vier Familien, sind es in dem Film von Claudia Garde vornehmlich zwei Frauen, deren Wege sich zwei Tage lang kreuzen. Das ist alles wohl durchdacht – und so entsteht ein ausgefeilter, situativ dichter Mikrokosmos, dem man als Zuschauer gespannt von Szene zu Szene folgt. Das Interesse daran, wohin sich die Handlung unmittelbar bewegt, ist ebenso groß wie das Interesse am Schicksal des Kindes. Reizvoll ist auch das Ambiente der Geschichte: das ausgestorbene Seebad, das leere Hotel, die herbstliche Stimmung, das bewegte Meer „als Metapher für die inneren Zustände und Sehnsüchte der Figuren“, wie es Garde formuliert, das Meer aber auch als eine bedrohliche, sinnliche Naturgewalt, die in Form eines großen Schauspiels dem Menschen seine Kleinheit vor Augen hält. Ob Landschaft, ob Meer, ob Jahreszeit – alles ist perfekt aufgeladen mit den Stimmungen, von denen der Autor und die Regisseurin erzählen: aufgeladen mit Sehnsucht, Melancholie und Verzweiflung. Claudia Gardes Helfershelfer sind vor allem die Kamera (Philip Peschlow) und die Musik (Colin Towns), der Ton und das Sounddesign. Sie liefern den atmosphärischen Hintergrund, auf denen sich die großartigen Schauspieler entfalten können.
Foto: NDR / Marion von der Mehden
Petra Schmidt-Schaller ist in „Die gute Mutter“ in einer ihrer bislang komplexesten Rollen zu sehen, eine Frau, nah am Borderline-Syndrom, impulsiv und sprunghaft ihr Verhalten, instabil ihre Interaktionen und schwankend auch ihr Selbstbild. Ständig gerät diese Frau mit ihren sozialen Rollen in Kollision. Sie will eine gute Mutter sein, ohne so richtig zu wissen, was das heißt. Sie ist Tochter und sie sehnt sich bis heute nach der Liebe und der Anerkennung ihrer Mutter. Mitunter rutscht sie schon mal in die Rolle des kleinen Mädchens, das am Telefon mit verstellter Kinderstimme spricht. Sie ist eine Frau aus der Unterschicht, die ordinär sein kann und die Schuld immer sofort bei den Anderen sieht. Sie ist ganz Frau, ein sexuelles Wesen; „Matratze“ soll man sie bereits mit 14 Jahren genannt haben, lästert ihre Mutter. Schmidt-Schaller kann in dieser Rolle alle ihre Möglichkeiten ausspielen. „Die Figur sollte etwas Schönes und Optimistisches haben, auch etwas Provozierendes, und zugleich etwas Kindliches und Störrisches.“ Dieses Anforderungsprofil, das Regisseurin Garde an die Darstellerin dieser Rolle stellte, erfüllt die 37-Jährige absolut. Auch wenn man als Vielseher den Eindruck hat, sich an dieser Schauspielerin in letzter Zeit ein bisschen satt gesehen zu haben – in diesem Film entfaltet sie eine enorme Kraft und erweckt ihre Figur in deren ganzer Widersprüchlichkeit sinnlich aufregend zum Leben, und sie schafft es, trotz des unmöglichen Verhaltens dieser Frau ihren Kindern gegenüber, dass man eine gewisse Sympathie für sie empfindet. Wenn Mona im Intro-Video trotzig den Selbstmord an sich und ihren Kindern ankündigt, die Augen verweint, der Gestus verzweifelt, wird früh die Mitleidsspur etabliert.
Nicht weniger überzeugend ist Mina Tander als geerdeter Gegenpol, eine Mitdreißigerin, die ihre Frau steht in einem Milieu der Männer. Ihre Greta ist professionell in ihrem Beruf – und weiß die provozierende Art ihrer Mutter einigermaßen souverän hinzunehmen. „In ihr ist eine große Sehnsucht nach Bewegung; sie hat das Gefühl festzustecken, ihren eigenen Impulsen nicht nachgegangen zu sein“, beschreibt Tander die Lebensphase ihrer Figur. Was sie wohl mitnehmen wird von den 48 Stunden mit der Frau, der sie das Leben rettet und für die sie „fast so etwas wie eine Herzensverliebtheit empfindet“? Man kann es nur erahnen, denn die 38-Jährige spielt ihre Rolle gewohnt zurückgenommen, fast norddeutsch, aber so, dass man merkt, dass es in ihrer Figur arbeitet. Auch Mina Tander spielte zuletzt eine sehr ambivalente Figur, die sich dem gesellschaftlichen Druck, eine gute Mutter zu sein, stellen musste und die Antwort fiel eindeutig aus: In „Der Sohn“ besiegelten Paranoia und kleinstädtischer Druck den Tod des eigenen Kindes. In ihrem neuen Film sind beide Frauenporträts eine Spur psychologischer angelegt. Die Ursprungsfamilie und die eigene Persönlichkeit sind wichtiger als der soziale Zwang. Mit beiden Rollen unterstreicht Tander, die 20 Jahre lang fleißig gedreht hat, dass sie mittlerweile zu den Großen ihrer Generation gehört. Und so ist „Eine gute Mutter“ das, was viele gern einen Schauspielerfilm nennen – weil Schmidt-Schaller und Tander das ernten, was Jeltsch gesät und Garde gezogen hat.