Ein Schritt zu viel

Lilith Häßle, Nicki von Tempelhoff, Ulli Stephan, Katharina Bischof. Völlig klischeefrei

Foto: HR / Bettina Müller
Foto Thomas Gehringer

Zwei Männer, eine Frau: Die klassische Dreiecksgeschichte kommt in „Ein Schritt zu viel“ als feinfühliges und teils überraschendes Psychodrama daher. Ausgehend von der Liebes-Geschichte zwischen einem älteren Mann und einer jungen Studentin, die bei einer Escort-Agentur arbeitet, entwickeln die Autorin Ulli Stephan und Regisseurin Katharina Bischof einen leisen, intensiven Film über die Liebe und emotionale und materielle Abhängigkeiten. Mit Zeitsprüngen und vereinzelt eingestreuten Monologen bietet das tragische Beziehungsdrama ein herausforderndes, unkonventionelles Fernseh-Erlebnis. Großartig das Spiel des Darsteller-Trios, allen voran der jungen Burg-Schauspielerin Lilith Häßle in ihrer ersten TV-Hauptrolle. Herausragend auch die Bildgestaltung von Johannes Monteux.

Die Kamera ist ruhig und aus großer Nähe auf den markanten Kopf des Schauspielers Nicki von Tempelhoff gerichtet, der, von der Seite angeleuchtet, zur Hälfte im Dunkeln bleibt. Er spielt den erfolgreichen Banker Friedrich Benning, für den Geld keine Bedeutung hat, weil er davon im Überfluss hat. Zu Beginn des Films berichtet er in einem kurzen Monolog von einem zockenden Kollegen, der berichtet habe, „dass Verlieren sogar der größere Kick sei, weil man dem Untergang näher ist. Und je näher man dem Untergang ist, desto mehr spürt man, dass man noch lebt“. Soviel zur Erläuterung des Titels „Ein Schritt zu viel“. Kurz darauf sieht man Benning in einem Auto, er wirkt nervös und besorgt. Dann steigt er aus, geht in ein Haus, und als Nächstes hört man seinen Polizeinotruf. Friedrich Benning meldet einen schwer Verletzten. Josch (Daniel Sträßer) stirbt an den Folgen einer Kopfverletzung. Er liegt auf dem Boden in der Wohnung, in der Nicole Lehnert (Lilith Häßle) mit der gemeinsamen Tochter lebt. Josch habe zwar hier nicht gewohnt, „aber er war oft da“, erläutert Nicole den Kommissarinnen (Nicole Marischka, Altine Emini). Die Wohnung gehört jedoch Benning.

Ein Schritt zu vielFoto: HR / Bettina Müller
Entdeckung fürs Fernsehen: die Burg-Schauspielerin Lilith Häßle (mit Amanda da Gloria) in „Ein Schritt zu viel“ (ARD/HR, 2020)

Die erste Rückblende erzählt Friedrichs und Nicoles Kennenlernen: Ein Kollege (Marc Hosemann) hat für sich und Benning zwei Escort-Damen für einen feucht-fröhlichen Abend in einem Club gebucht. Älterer, wohlhabender Mann verliebt sich in junge, mittellose Studentin – klingt schwer nach Klischee und Altherren-Phantasie, wird hier aber behutsam und voller Respekt für die Figuren erzählt. Die Besetzung ist perfekt: Nicki von Tempelhoffs imposante Statur und sein mächtiger Vollbart strahlen Stärke und Männlichkeit aus. Er spielt den Friedrich Benning aber weder als Draufgänger noch als Macho, sondern als scheuen, von seiner Frau verlassenen Workaholic, der seinen Fehler bei Nicole nicht wiederholen will. Auch Lilith Häßles Spiel vermeidet jedes Extrem: Nicole ist weder Femme fatal noch Mauerblümchen noch eine Frau, mit der man das Wort „Sugarbabe“ assoziieren würde (so lautete der Arbeitstitel). Sie lebt in einer WG und finanziert ihr Jura-Studium durch den Job beim „High Class Escort“. Das entspricht zwar nicht ganz dem Bild einer bodenständigen Jura-Studentin, wird hier aber nicht moralisch bewertet. Lilith Häßle lässt auch nicht den Verdacht aufkommen, dass Nicole sich aus Berechnung auf den älteren Friedrich eingelassen haben könnte. Die anfängliche Zuneigung ist ebenso glaubwürdig wie das nun folgende Drama, das aus den emotionalen und materiellen Abhängigkeiten entsteht.

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Junge Frau, älterer Mann – keine Altherrenphantasie! Haben Spaß miteinander. Idealbesetzung: Nicki von Tempelhoff, Lilith Häßle

„Ein Schritt zu viel“ von der erfahrenen Drehbuch-Autorin Ulli Stephan („Im Netz“, „Ohne dich“) und Nachwuchs-Regisseurin Katharina Bischof, die nach mehreren Krimi-Folgen („Der Alte“, „Soko München“) ihren ersten abendfüllenden Fernsehfilm inszeniert hat, ist ein eher leiser, intensiver und durch die vielen Zeitsprünge auch herausfordernder Film. Die ab und zu eingestreuten, kurzen Monologe von Friedrich und Nicole sind wie ästhetisch aus der Reihe tanzende Stolpersteine, die zum Hinhören und Nachdenken anregen. In der Handlung werden Erwartungen unterlaufen und keine moralischen Zeigefinger erhoben, in der Inszenierung bleiben die Figuren lebendig, nachvollziehbar, klischeefrei. Weder wird Friedrich zum eifersüchtigen Wüterich noch gerät Nicole in die weibliche Opfer-Rolle. Die offene Frage nach den Umständen von Joschs Tod und die Befragungen von Nicole und Friedrich durch die beiden Kommissarinnen bilden eine Art roter Faden und sorgen für zusätzliche Spannung. Ginge es in dem Film in erster Linie um die klassische Krimi-Frage, wer der Täter war, könnte man das unspektakuläre Ende vielleicht als etwas billig bezeichnen. Aber hier geht es eher um das Drama dahinter, um die Beziehungen und die Frage, welche verhängnisvollen Folgen das Dreiecksverhältnis für die Individuen hat. Um den anfangs beschworenen „Untergang“ durch den einen „Schritt zu viel“, auch wenn das arg pathetisch klingen mag.

Ein Schritt zu vielFoto: HR / Bettina Müller
Und was sagen Bennings „Kinder“ zu Nicole? Antonia Bill und Philip Dechamps

Bevor Josch ins Spiel kommt, erzählen die Rückblenden, wie Friedrich versucht, Nicole als generöser Wohltäter an sich zu binden. Er überredet sie, den Job in der Agentur aufzugeben, kauft ihr ein Apartment, stellt sie auch seinen beiden erwachsenen Kindern Helen (Antonia Bill) und Simon (Philip Dechamps) vor. „Nicole ist Familie“, sagt Friedrich später der Polizei. Doch Nicole wird es bald zu eng. Sie erlebt auch im Studium Rückschläge, lernt Josch kennen, verliebt sich, stellt ihn Friedrich vor: „Zeit, ein paar Dinge zu klären.“ Nicole wird schwanger, doch IT-Entwickler Josch arbeitet vorerst erfolglos mit einem Freund an einer Start-up-Idee. Und Friedrich steht aus Liebe zu Nicole als Helfer bereit. So erstreckt sich die Handlung über mehrere Jahre. „Die Zeitsprünge sollen eher gespürt werden als sachlich erklärt. Das gelingt vor allem durch den Gefühlszustand der Protagonisten“, wird Regisseurin Bischof im Presseheft des HR zitiert. Ein paar äußere Merkmale gibt es allerdings schon, die sich erkennbar wandeln – hilfreich ist es zum Beispiel, auf die Farbe von Friedrichs Bart zu achten. „Auch in der Bild- und Lichtgestaltung haben wir Gegensätze geschaffen. Die Vergangenheit wird wärmer, bunter und bewegter erzählt, die Gegenwart dagegen eher kühl, grau und statisch. Unterstützend verwandeln sich auch auf der Tonebene die Umgebungs-Geräusche von einer lebendigen Leichtigkeit hin zu einer beklemmenden Stille“, so Bischof.

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Fernsehfilm

HR

Mit Lilith Häßle, Nicki von Tempelhoff, Daniel Sträßer, Nicole Marischka, Altine Emini, Antonia Bill, Philip Dechamps, Marc Hosemann, Amanda da Gloria

Kamera: Johannes Monteux

Szenenbild: Bettina Schmidt

Kostüm: Marina Popkova-Sologub

Schnitt: Natalie Trapp

Musik: Richard Ruzicka

Soundtrack: Laurie Anderson („O Superman“ / My Right Eye“)

Redaktion: Lili Kobbe

Produktionsfirma: Hessischer Rundfunk

Drehbuch: Ulli Stephan

Regie: Katharina Bischof

Quote: 3,82 Mio. Zuschauer (11,9% MA)

EA: 11.11.2020 20:15 Uhr | ARD

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