Kaiserslautern, 1994. Ottes (Leonard Kunz) hat mal wieder eine Überraschung für seine Kids und seine Frau Mira (Mercedes Müller): ein Besuch im Freizeitpark mit Ständchen für seine bessere Hälfte. Diese guckt eher peinlich berührt als erfreut. „Noch einmal und ich bin weg.“ Der Mann, der sich hier als toller Papa selbst feiert, hat sich offenbar viel zuschulden kommen lassen. Im Gegensatz zu seiner Frau kommt das Schönwettermachen bei seinem Sohn Christian (Camille Loup Moltzen), dem mittleren der drei Kinder, gut an. Mit dem Papa zum Fußballgucken in dessen Stammkneipe gehen, dabei sein, wie der auf dem Tisch Rio Reisers „König von Deutschland“ grölt, dieser kleine Mann, der als Möbelpacker allein eine Waschmaschine tragen kann: das alles beeindruckt den Jungen schon sehr. Weniger toll finden es er und seine Geschwister, wenn der Vater betrunken ist – und zu Hause im Kinderzimmer diese dumpfen Schläge von nebenan zu hören sind. Die Mutter leidet still, schreibt Gedichte – und wird krank. Als Christian eine Gymnasialempfehlung bekommt, eskaliert die Situation. Jetzt schaltet sich Miras Schwester Juli (Svenja Jung) ein, kämpft gegen den von blindem Klassenstolz geprägten Ottes und gegen das Jugendamt. Und Christian, der wie alle Kinder den gewalttätigen Vater liebt, steht verunsichert zwischen den Fronten.
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„Mochte mein Vater auch manchmal unser letztes Geld in irgendeiner Spelunke versoffen, mochte er auch mehrmals meine Mutter blutig geprügelt haben: Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders.“ Das schreibt Christian Baron in seinem 2020 erschienen autobiografischen Roman „Ein Mann seiner Klasse“. Der Journalist mit Hochschulabschluss gehört zu den wenigen „Bildungsaufsteigern“ innerhalb des deutschen Klassensystems. Im Fernsehfilm von 2024 erzählen nun Marc Brummund (Regie, Ko-Autor) und Nicole Armbruster (Buch) von einem ereignisreichen Sommer dieser Familie, deren Kinder arm in ein reiches Land geboren wurden. Manchmal reicht es kaum fürs Essen. Und wenn dann mal was auf dem Tisch steht, dank Tante Ella (Katharina Heyer), die sich aus dem Milieu heraus geheiratet hat, landet es im Mülleimer. „Ich kann meine Familie allein ernähren!“, brüllt der Vater. Während der Roman um diesen Wüterich kreist, ein alkoholkrankes Monster, an dem sich der Sohn abarbeitet, wird im Film die Perspektive auf den zehnjährigen Christian hin verschoben. Auch wenn zahlreiche Szenen beim Zusehen schmerzen, so besitzt dieses Sozialdrama über seine starke Schlussmetapher hinaus, die die Lebensunfähigkeit und den Realitätsverlust des Vaters tieftraurig versinnbildlicht, ein utopisches Potenzial. Im Abspann erfährt man, dass der Junge diesem Teufelskreis aus Armut, Klassenstolz und Alkoholismus entkommen ist. Und so steht dem Verfall eines Vaters die Selbstermächtigung eines Kindes gegenüber. Aufatmen also, spätestens am Ende.
Unaufdringlich erfährt man als Zuschauer in „Ein Mann seiner Klasse“ von der häuslichen Gewalt. Die eingetretene Wohnungstür, die Hämatome auf dem Rücken der Mutter, die Wutausbrüche des Vaters reichen aus, um sich ein Bild dieser Familie zu machen. Verstärkt wird diese ausschnitthafte Erzählweise durch den patinierten und doch nie nostalgisch verklärten Blick dreißig Jahre zurück, in die Pfalz, wo die Erfolge des 1. FC Kaiserlautern Balsam für geschundene Arbeiterseelen waren. Das eigentliche Thema ist der Ausbruch aus der Tradition einer Familie, in der Konflikte stets mit männlicher Gewalt gelöst wurden, wie Ottes Vater (Steffen Wink) als teuflischer Sidekick unmissverständlich deutlich macht. Ein ganz anderes Verständnis von Familie und ein wohlwollender Kommunikationsstil herrscht dagegen mütterlicherseits, wo Opa Willy (André Eisermann) stets mitanpackt. Und Tante Juli opfert sich geradezu auf für die Kinder ihrer Schwester. Nach einem tragischen Unfall (Christian kann als Zehnjähriger noch nicht schwimmen) wird sie, die gegen den Vater vor Gericht gezogen ist, dann allerdings Augenzeugin einer tränenreichen Situation, die sie zum Umdenken veranlasst. Sie gibt Otte eine letzte Chance, sich als verantwortungsvoller Vater zu bewähren.
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In seiner Ruhe liegt die Kraft dieses alltagsnah gespielten und bis in die Nebenrollen perfekt besetzten Films, der auf Dramatisierung verzichtet und der seine Geschichte(n) im besten Sinne des Wortes erzählt. Aus den Episoden und den Momentaufnahmen, die einen Zeitraum mehrerer Monate abdecken, ergibt sich das Drama eines Zehnjährigen, das nicht zum Trauma hochstilisiert wird, sondern das sich in einem inneren Konflikt spiegelt: Dieser Christian ist klug genug zu wissen, was gut für ihn und seine Zukunft ist; gleichzeitig hängt er an seinem Vater, will zu ihm halten und will daran glauben, dass er sich ändert, obwohl der Junge immer wieder schwer von ihm enttäuscht wird. Dieses Hin- und Hergerissen-Sein und die (unterschwellige) Forderung, sich entscheiden zu müssen, ist nach der 30-minütigen Abwärtsspirale, in die die Familie bis zum Tod der Mutter gerät, das dramaturgische Zentrum der episodischen Handlung.
Christian will, dass sein Vater da ist, „aber anders“. Und alle wollen was von ihm: Da ist der Vater, der sich durch die Anerkennung seines Sohns als („guter“) Vater aufzuwerten versucht, da ist Tante Juli, die objektiv gesehen recht haben mag mit ihrer rigiden Haltung Otte gegenüber, die mit Sätzen wie „Dein Vater reißt alle in den Abgrund“ den Jungen allerdings noch mehr aufwühlt, und da ist Tante Ella, die ihm mit Museumsbesuchen Wege weist aus dem familiären Dilemma, was ihn erst einmal weiter verwirren dürfte, weil es ebenso wenig kindgerecht ist wie Ottes Kneipenbesuche. Diese Tante wirft auch das Thema Journalismus auf. Spricht von einem möglichen Praktikum. Bisschen früh mit zehn. Dieser Hinweis ist natürlich der Biographie von Christian Baron geschuldet, der nach dem Studium Journalist wurde.