Nele Sommer (Moana Götze) ist ehrgeizig. Von einer Diabetes-Erkrankung lässt sich ein Mädchen wie sie nicht unterkriegen. Auf Nele ist Verlass. Als die 14-Jährige nach dem Schwimmtraining nirgends zu finden ist, informiert ihr Vater Holger Sommer (Martin Lindow) sofort die Polizei. Ingo Thiel (Heino Ferch) registriert die Kälte zwischen Holger und seiner Frau Christa (Sandra Borgmann), konzentriert sich aber auf die einzig wichtige Frage: Wo ist Nele? Der Chefermittler der Kripo Mönchengladbach schwört sein Team ein und lässt die Spur des Mädchens verfolgen. Auf der nächtlichen Landstraße läuft der Polizeihund dann im Kreis und eine Polizistin zuckt ratlos mit den Schultern. Thiel kennt das. Fünf Tage später findet ein Beamter der angeforderten Polizeistaffel auf einem Feld Neles Handy. Endgültige Gewissheit erwartet die Ermittler drei Tage später. An einem Baggersee liegt Neles Leiche. Thiel hat es geahnt. An Tag acht schaltet er von Opfer- auf Tätersuche. Jetzt ist Zeit für alle anderen Fragen. Zum Beispiel: Was geht im Kopf einer 14-Jährigen vor?
Foto: ZDF, Arte / Frank Dicks
Rückblick: Im Dezember 2017 beschert „Ein Kind wird gesucht“ Traumquoten. In der Bestenliste von Arte steht der Film bis heute auf Platz zwei. Der erste Einsatz von Ingo Thiel und seiner Truppe rekonstruiert den wahren Fall des zehnjährigen Mirco aus Grefrath am Niederrhein, der im Herbst 2010 ermordet wurde. Regisseur Urs Egger verfilmt ein Drehbuch von Katja Röder und Fred Breinersdorfer, der „echte“ Ingo Thiel, Leiter einer der aufwendigsten SOKOs der deutschen Kriminalgeschichte, berät das TV-Team. Das zweite Krimidrama des Trios Egger/Röder/Breinersdorfer geht unter dem Titel „Die Spur der Mörder“ am 18.10.2019 auf Sendung. Es orientiert sich an den Mafia-Morden, die 2007 Duisburg erschütterten, und stellt Thiel eine eigensinnige Mafia-Expertin (Verena Altenberger) zur Seite. Auch dieser Fall und dieses Doppel überzeugen.
Egger/Röder/Breinersdorfer ist es gelungen, der Krimiflut des deutschen Fernsehens eine neue Facette hinzuzufügen. Fall Nummer drei, diesmal unter der Regie von Markus Imboden, übernimmt die Alleinstellungsmerkmale der Vorgänger. Auch er erzählt schnörkellos vom zermürbenden Kleinklein der Ermittlungsarbeit. Auch er zählt die Tage herunter, die ein Fall beansprucht, der nach vier Wochen offiziell als „ausermittelt“ gilt, obwohl die Tätersuche knapp dreimal so viel Zeit in Anspruch nimmt. Auch er verzichtet auf experimentelle Erzählformen, schräge Kameraperspektiven, Action-Einlagen oder zu viel Musik. Und lebt von einem Kommissar, der gegen alle Regeln verspricht, den Mörder zu finden. Dieser Ingo Thiel ist Ferchs vierte Krimireihen-Hauptrolle. Als Richard Brock steigt er in „Spuren des Bösen“ (9 Folgen) grübelnd in Wiener Abgründe hinab, als Sturkopf Kessler bringt er seine Kollegin (Barbara Auer) an fiktiven Nordseestränden zur Verzweiflung (bislang drei Doppelfolgen), in mittlerweile vier Martin-Suter-Detektivspielen um Lebemann „Allmen“ flattert er als Paradiesvogel durch die gehobenen Kreise der Schweizer Gesellschaft. Die Lederjacke des Ingo Thiel trägt Ferch wie eine Rüstung. Seine Körperspannung grenzt an Steifheit. Nur mit der Kaffeetasse in der Hand und unter vertrauten Kollegen wirkt dieser Mann, als könne man ihm ohne Gefahr einfach mal so auf die Schulter tippen.
Foto: ZDF, Arte / Frank Dicks
Zu Thiels Vertrauten gehören Kollege Winni (so überzeugend wie uneitel: Ronald Kukulis) und Computer-Spezi Tim (Moritz Führmann, Postmann Heiner in „Harter Brocken“). Sie sind mit die ersten, die sich in den karg eingerichteten Ermittlungsräumen installieren. Hier stehen exakt so viele Monitore, wie die Behörde bewilligt hat. Nach Grünzeug ist keinem zumute. Das einzige Dekor ist eine Pinwand, die die Irrwege der Ermittlung protokolliert. Üppiger ausgestattet sind die Szenerien hinter den Türen, an die Thiel und Winni jetzt klopfen. Im Haus der Sommers atmet alles Trauer, Einsamkeit und die leeren Versprechungen einer ruinierten Ehe. Neles Freundin lässt die Kommissare erst gar nicht in die Bruchbude ihrer Mutter hinein, der Besuch bei einem DJ, in den Nele vielleicht verliebt war, bringt keine neuen Spuren. Auch Witwe Döhler öffnet nur zögernd. Eine DNA-Spur beweist, dass ihr verstorbener Mann Richard der Vater des Täters gewesen sein muss. Wir zählen Tag 64 und Thiel befragt die Frau eines Toten nach dessen Seitensprüngen. Das Siedlungshaus der Döhlers liegt im Schatten eines dampfenden AKW-Turms. Wir betreten eines der saubersten und zugleich hässlichsten Wohnzimmer des deutschen Nordwestens. Jedes Fenster mit schmuckvollen Ranken aus Schmiedeeisen gesichert, jede Decke vertäfelt, jede Gardine zu dick, um Licht durchzulassen. Und ein kleiner Beistelltisch für den verstorbenen Richard, auf dem Thiel die nächste Spur entdeckt. Auch sie wird in einer Sackgasse enden. Sorgsam ausgestattete Sackgassen zeichnen diesen Film aus.
„Ein Mädchen wird vermisst“ führt abermals vor Augen, welche irrwitzigen Zufälle oder Winzigkeiten in einer Ermittlung von Bedeutung sind. Die Taktung und das Abzählen der verrinnenden Zeit erhöhen den Druck. Unter diesem Druck wird klar, dass manch ein Fall nur geklärt werden kann, weil Ermittler von Sekunde eins an unter Strom stehen. Ermittler, die sich nicht zu schade sind, immer wieder um Personal, Material und Unterstützung zu betteln. Solche Leute braucht man überall. Vielleicht hätte auch „Ein Mädchen wird vermisst“ mehr davon gebraucht. Denn: So überzeugend der Ansatz, ein wahres Verbrechen semi-dokumentarisch und trotzdem spannend zu protokollieren, da und dort hätte der dritte Fall der Soko vom Niederrhein mehr Unterfütterung verdient. Das Ehedrama der Sommers wirkt im Vergleich zu den verstörend gutgläubigen Eltern im Fall Mirco etwas dünn, manch eine Auseinandersetzung mit Thiels Vorgesetzten wünscht man sich nicht nur am Telefon abgehakt. Und die Auflösung birgt keine große Überraschung. Klar, wahre Fälle sind nicht auf Überraschungen angelegt. Trotzdem hätte ein zweiter Blick auf die dramaturgische Abfolge vielleicht zu einer feineren Lösung geführt. Nach der Verhaftung von Neles Mörder hievt Thiel eine Kiste Bier auf den Tisch und prostet den Kollegen zu. Damit ist alles gesagt. Abruptes Ende. Aber wahrscheinlich entspricht auch das der Realität von Ermittlungsarbeit. Eine Erkenntnis, die man nach den üblichen „Welt wieder in Ordnung“-Finales vieler TV-Krimis erst mal schlucken muss. (Text-Stand: 26.8.2021)