Noch ist die junge Staatsanwältin Jessica Mauer (Sonja Gerhardt) guter Dinge. Ihr erster eigener Fall bringt ihr gleich eine Menge Aufmerksamkeit und die Faktenlage ist eindeutig. In einer Straßenbahn haben zwei junge Männer, der Schüler Mike (Béla Gabor Lenz) und sein Freund Kevin (Maximilian Beck), der gerade seine Lehrstelle verloren hat, sich den 24jährigen Isaac Akibo (Julius Dombrink) ausgeguckt, um ihn und seine Freundin Meike (Stephanie Amarell) gezielt zu provozieren. Vor allem Mike dreht auf, spricht den Deutschen mit ghanesischen Wurzeln als „Bimbo“ an, redet beleidigend auf ihn ein, provoziert ihn mit Affenlauten, rückt ihm körperlich immer näher und fasst ihn ans Geschlecht. Es entsteht ein Handgemenge – die beiden Täter verlieren die Kontrolle und treten brutal auf Akibo ein. Der liegt nun im Koma und die brutalen Angreifer erwartet eine Strafe von bis zu zehn Jahren. Denn es gibt eine Reihe Zeugen für die Tat: neben Isaacs Freundin eine Drogerieverkäuferin (Mira Elisa Goeres), ein Rentner (Holger Franke) und ein Paar (Pia Micaela Barucki & Oliver Bröcker) – alle haben mehr oder weniger deutlich gesehen und gehört, was abgelaufen ist. Eingegriffen haben sie spät, dafür sind sie sich jetzt einig. Doch die Väter der angeklagten jungen Männer bleiben nicht untätig. Es gibt massive Einschüchterungsversuche – und plötz-lich steht die Staatsanwältin bei Prozessbeginn nur noch mit zwei Zeuginnen da. Ja, es wird von der Verteidigung sogar suggeriert, die Aggression sei von dem Schwarzen ausgegangen.
Foto: Sat 1 / Stefan Erhard
Der Zuschauer weiß es natürlich besser. Denn er ist in „Ein ganz normaler Tag“ zu Beginn Augenzeuge der Tat. Die beiden jungen Männer sind auf Krawall gebürstet. Der, der offenbar besser drauf ist, scheint allein aus Lust und Laune zu pöbeln, der andere, Typ klassischer Loser, versteckt sich noch eine Weile hinter seiner Scham und Unzufriedenheit. Sein innerer Frust findet in der äußeren, immer deutlicher zu Tage tretenden Aggressivität seines Freundes ein Ventil – und so gipfelt die unverschämte Attacke wenig später in einem Gewaltexzess. Dabei wirkt die Hautfarbe des jungen Mannes mit der sympathischen Freundin noch dazu wie ein Trigger für die rechte Gesinnung und den tief verwurzelten Rassismus des aktiveren der beiden Täter. So kann man die Situation lesen. In der Folge geht es aber nicht um die (sozial)psychologische Einordnung oder gesellschaftliche Analyse, sondern eher darum, das Zeitphänomen, die immer größere Gewaltbereitschaft im öffentlichen Leben, politisch einzuordnen – und dabei an Moral und Rechtsempfinden des Einzelnen zu appellieren. „Irgendwas stimmt nicht da draußen“, sagt der Oberstaatsanwalt in Genrefilm-Manier, und konstatiert „immer brutalere Übergriffe im öffentlichen Nahverkehr“. Der Film macht sinnlich deutlich, was hinter diesen Begriffen und Sachverhalten steckt. Die Haltung der Gesellschaft kommt durch die Perspektive der Justiz ins Spiel. Durch die junge Staatsanwältin werden Fragen von Recht und Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt: Kann es angehen, dass zwei Jungmänner, die sich in einen Blutrausch hineinsteigern und einen anderen Menschen vielleicht für immer zu einem Pflegefall machen, möglicherweise glimpflich davonkommen?
Handeln oder Zuschauen? Das ist hier die Frage. Diese Frage zieht sich über mehrere Ebenen der Narration. Gefragt ist die Zivilcourage der Zeugen, damit verbunden die Frage an den Zuschauer: „Wie würden Sie entscheiden?“ Den Prozess abwarten oder etwas tun und seinen Ausgang beeinflussen? Diese Frage hat der Vater des unangenehmeren der beiden Täter für sich klar beantwortet. Und damit nimmt er nicht nur Einfluss auf die Zeugen, sondern er fordert auch die Heldin heraus. Und die muss sich, nachdem ihr Freund zusammengeschlagen wurde, nun auch entscheiden: ob sie dem Druck nachgibt oder in ihrer Funktion als Staatsanwältin ein Zeichen setzt. Dass Rauhaus anfangs die schwere Körperverletzung, die sogar als versuchter Todschlag ausgelegt werden kann, mit dem Rechtsruck im Land kurzschließt, dass er Anspielungen macht auf „die besorgten Bürger“, dass er latenten Rassisten aufs Maul schaut, ist eher kontraproduktiv für den konkreten Fall. Diese Anspielung auf die rechte Gesinnung wirkt formelhaft und läuft Gefahr, von der Tat abzulenken. Ähnlich aufgesetzt ist die kurze Episode aus dem Berufsalltag der Drogerieverkäuferin, die allzu deutlich der #metoo-Debatte geschuldet ist. Der Autor bekommt allerdings schnell die Kurve, verzettelt sich nicht auf reaktionären Nebenschauplätzen, beschränkt sich auf die juristischen Konflikte. Und so geht es in erster Linie um das, was diese beiden jungen Männer tun, was sie sagen, wie sie sich verhalten, nicht um irgendwelche verqueren politischen Überzeugungen. Als möglicher Nährboden für eine solche Tat schwingt dagegen diese unreflektierte, instinktive Ausländerfeindlichkeit weiterhin als narrativer Subtext mit.
Foto: Sat 1 / Stefan Erhard
Einige Anspielungen auf den rechten Zeitgeist dienen allerdings allein der Dramaturgie: so beispielsweise der Mitarbeiter der Staatsanwältin, der gleich im ersten Gespräch mit ihr aus seinen Stammtischansichten kein Hehl macht, um sich dann doch als wenig motivierter zwar, aber immerhin einigermaßen loyaler Kollege zu erweisen. Auch die finalgesteuerte Dramaturgie inklusive der Lösung am Ende gehorcht den Gesetzen herkömmlicher Helden-Geschichten – mit einer aufrecht kämpfenden Demokratin: Sonja Gerhardt (29) macht wie immer ihre Sache gut, diesmal als Streberin für mehr Gerechtigkeit. Handlungsverlauf und Charaktere sind hundertprozentig durchschaubar. „Ein ganz normaler Tag“, entsprechend seines Titels angenehm zurückhaltend und unauffällig „alltagsnah“ von Ben Verbong („Honigfrauen“, „Mona kriegt ein Baby“) inszeniert, erfindet das Genre Gerichtsdrama erwartungsgemäß nicht neu. Doch so sehr der Film auf der Zielgeraden auch ein etwas naives Hohelied der Zivilcourage und Solidarität anstimmt, was zum Appellcharakter der Sat-1-Aktion #WirZeigenHaltung natürlich gut passt, so besitzt er doch zwei dramaturgische Filetstücke: Das eine ist der bereits beschriebene ausführliche Tathergang zu Beginn des Films, von der ersten Provokation zum Blutbad; das zweite ist das szenische Gegenstück kurz vor dem Ende. Es ist die Rückkehr an den Tatort als ein vom Gericht verordneter Ortstermin, der zu einer Art psychologischer Täter-Opfer-Aufstellung wird. Jetzt hat nicht nur der Zuschauer den Vergleich, auch die Zeugen rutschen noch einmal in die traumatische Situation jener Straßenbahnfahrt. Jetzt ist es schwerer als im Gerichtssaal, die Distanz zu behalten. Jetzt kommt alles wieder hoch… Diese zehn Minuten relativieren die konventionelle Wohlfühl-Lösung mit dem optimistischen Gruppeneffekt. Diese Situation ist psychologisch durchdacht und überführungstechnisch klug. Emotional und impulspolitisch ist der Film ohnehin durchweg clever: Das Unbehagen, das die Staatsanwältin mitunter verspürt, oder die Wut, die die von Stephanie Amarell eindrucksvoll verkörperte Freundin des Opfers überkommt, diese Gefühle der beiden Hauptidentifikationsfiguren machen auch vor dem Zuschauer nicht halt. Und so dürften wohl die meisten am Ende dankbar dafür sein, dass die Macher sie mit dieser etwas blauäugigen Utopie aus der Ohnmacht herausholen. (Text-Stand: 10.3.2019)