Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt

Selge, Confurius, Kai Christiansen. Dokumentarspiel über einen „Stillen Helden“

Foto: NDR / Vincent TV / Beate Waetzel
Foto Thomas Gehringer

Der Berliner Bürstenfabrikant Otto Weidt hilft während des zweiten Weltkriegs den bei ihm beschäftigten Juden. Eine wahre, bewegende Geschichte über Mut und Menschlichkeit. Und eine Liebesgeschichte zwischen einem älteren, blinden Mann und einer jungen Frau. Stark besetzt, großartig vor allem Edgar Selge als Otto Weidt. Der Film hat einen hohen Anteil an Spielszenen, die durch Passagen aus einem Interview mit der imponierenden Inge Deutschkron ergänzt werden. Sorgfältig und ohne übertriebenes Pathos inszeniert.

Eine junge Frau wirft eine unfrankierte Postkarte aus einem schmalen Luftschlitz im Güterwaggon, irgendwohin in ein Niemandsland. Ein uniformierter Mann auf einem Fahrrad findet sie und wirft sie in einen Briefkasten – ein lebensrettender Zufall, auch das ein wahres Detail. Jedenfalls erreicht die Karte den Adressaten: Otto Weidt, einen Bürstenfabrikanten aus Berlin. Seine ehemalige Sekretärin Alice Licht schreibt ihm, sie sei nun auf dem Weg in das Arbeitslager Birkenau. Diese Anfangsszenen sind eine Art „Vorblende“, danach geht die Inszenierung zurück ins Jahr 1941, in die Fabrik von Otto Weidt, bei dem Alice Licht um Arbeit bittet. Weidt fährt später tatsächlich nach Auschwitz. Er findet heraus, dass Licht bereits in ein anderes Lager verlegt wurde und trifft Vorkehrungen für eine mögliche Flucht.

Der Film erzählt die unerhörte und bewegende Geschichte eines „Stillen Helden“, eines jener Deutschen, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus unter hohem persönlichen Risiko für Verfolgte einsetzten. Otto Weidt behandelte die bei ihm beschäftigten Juden nicht nur menschenwürdig. Er bewahrte sie auch vor Repressionen, befreite sie nach einer Verhaftungsaktion aus den Fängen der Gestapo und sorgte für Verstecke, als ihnen die Deportation drohte. So half er mit, dass sich einige von ihnen retten konnten, darunter die heutige Publizistin Inge Deutschkron & Weidts Sekretärin Alice Licht, die 1986 in Israel starb.

Deutschkron erinnerte schon 2001 in ihrem gleichnamigen Buch an „Papa Weidt“, und auch in diesem Film hat sie eine Schlüsselrolle. Häufig werden die Spielszenen durch Interview-Passagen mit Deutschkron unterbrochen. Vereinzelt wirken ihre Erläuterungen und die Spielszenen redundant, doch zumeist ist dieser Perspektivwechsel eine Bereicherung. Denn Deutschkron ist eine Zeitzeugin, die trotz ihres hohen Alters lebhaft, pointiert und ohne Hang zum Pathos zu erzählen versteht. Weidt „war in gewisser Hinsicht ein Hochstapler“, sagt sie, einer, der ein „Wolkenkuckucksheim aus seinem Leben machte“. Angemessen auch, dass Sandra Maischberger, die das Interview führte, hier nicht in Erscheinung tritt.

Ein blinder Held – Die Liebe des Otto WeidtFoto: NDR / Vincent TV / Beate Waetzel
Ein „Stiller Held“: Otto Weidt befreit seine Belegschaft aus der Gestapo-Haft. Henriette Confurius und Edgar Selge

Als zweites dokumentarisches Stilmittel werden grobkörnige Originalaufnahmen aus dem Berlin der Nazizeit eingesetzt. Es sind weniger die üblichen, in den zahlreichen Dokus bei  Guido Knopp & Co verwendeten und „abgenutzten“ Signalbilder, obwohl auch hier manche Hakenkreuzfahne flattert und die (möglicherweise propagandistischen?) Quellen letztlich unklar bleiben. Zu Beginn sind es vielfach Straßen- und Alltagsszenen, die Bilder haben eine beiläufige, atmosphärische Aussagekraft, zumal sie „vertont“ und somit verfremdet wurden – da hupen die Autos und knirschen die Schritte im Schnee. Zunehmend dienen die Original-Aufnahmen der Dokumentation der politischen Verhältnisse: Man sieht Menschen mit dem gelben „Judenstern“, man sieht Deportationen und später die Baracken von Auschwitz. Und am Ende liegt Berlin in Trümmern. Das alles wird nicht kommentiert, muss es auch nicht.

Den mit Abstand größten Anteil machen aber die Spielszenen aus. Edgar Selge gibt eine eindrucksvolle Vorstellung als fast blinder Fabrikant, der die Nazis mit Cognac, Parfüm und Zigarren bei Laune hält. Einer, der großspurig auftreten und vor der Gestapo auch eine Vorstellung als linientreuer Antisemit geben kann, aber seinen jüdischen Arbeiterinnen und Arbeitern als verständnisvoller Chef begegnet. Einige sind ebenfalls blind, andere nicht – daraus macht der Film keine große Sache. Das Zusammenspiel wirkt wie selbstverständlich, auch Selge bewegt sich sicher und selbstbewusst, ohne das Handicap vergessen zu lassen.

Wie die historischen Eventfilme a là „Dresden“ hat auch das weitaus weniger aufwändige Dokumentarspiel „Ein blinder Held“ eine Liebes-Dreiecksgeschichte zu bieten – das war es dann aber an Gemeinsamkeiten. Zumal die Romanze zwischen Weidt und Alice Licht offenbar nicht erfunden ist, jedenfalls wird sie von Inge Deutschkron bezeugt. Sehr zurückhaltend wird diese in jenen Zeiten eigentlich unvorstellbare Affäre inszeniert, eine vorsichtige Annäherung zwischen einer jungen Frau und ihrem deutlich älteren Chef. Henriette Confurius als Alice Licht und Selge gelingt das überzeugend, ohne jede Schlüpfrigkeit und ohne falschen Ton. „Der Wahnsinn wird nicht ewig dauern. Dann wird sie dich verlassen. Dann braucht sie dich nicht mehr“, erklärt Weidts eifersüchtige Ehefrau Else ihrem Mann. Doch verraten wird sie die Nebenbuhlerin nicht, im Gegenteil. Eine Heldin auch sie, das wird erzählt ohne Pathos.

Die Inszenierung des Nazi-Terrors mit Uwe Bohm als Gestapo-Greifer Heintze und seinen Leuten in den schweren Mänteln bleibt zwiespältig, weil die Realität so viel maßloser war. Diese zum Nazi-Klischee geronnenen Figuren hat man schon so oft gesehen. Auch stört der übermäßige Einsatz von Musik, und in manchen Szenen hätten Selge und Confurius die Angst und Verzweiflung nicht derart ausspielen müssen. Denn die Beklemmung über die sich stetig steigernden Repressionen, über die Wehrlosigkeit der Opfer wird auch so spürbar.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

HR, NDR, rbb, WDR

Mit Edgar Selge, Henriette Confurius, Julia Goldberg, Heike Hanold-Lynch, Katrin Pollitt, Fabian Busch, Uwe Bohm, Isabelle Barth, Axel Gottschick

Kamera: Jan Kerhart

Schnitt: Barbara Toennieshen

Musik: Hans Peter Ströer

Produktionsfirma: Vincent TV

Produktion: Matthias Martens

Drehbuch: Heike Brückner von Grumbkow, Jochen von Grumbkow

Regie: Kai Christiansen

Quote: 2,65 Mio. Zuschauer (10,2% MA)

EA: 06.01.2014 21:45 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach