Du sollst nicht lügen

Felicitas Woll, Atsma, Becht, Ströher/Morgenstern, Freydank. Dein Leben gehört mir

Foto: Sat 1 / Christine Schröder
Foto Tilmann P. Gangloff

Nach einem angenehmen Abend mit dem attraktiven Arzt Hendrik erwacht Lehrerin Laura am nächsten Morgen mit der Gewissheit, dass sie vergewaltigt worden ist, aber sie kann sich an nichts mehr erinnern. Da Hendrik versichert, der Sex sei einvernehmlich gewesen, steht Aussage gegen Aussage. Das Handlungsmuster des als vierteilige Miniserie konzipierten Sat-1-Zweiteilers „Du sollst nicht lügen“ basiert auf einem britischen Vorbild, erinnert aber an andere Filme mit ähnlichen Geschichten. Weil die filmpool-Produktion mehr Drama als Krimi ist, geht es weniger um die Überführung des Täters; Laura will vor allem verhindern, dass Hendrik noch weitere Opfer findet. Regisseur Jochen Alexander Freydank verzichtet auf spekulative Bilder. Optisch gelungen ist vor allem die Verknüpfung der ungeschminkten Gegenwart mit den in warmen Farben gehaltenen Rückblenden. Schauspielerisch ist der Film ohnehin sehenswert, auch wenn die Rollenverteilung aufgrund der Besetzung mit Felicitas Woll und dem „vorbelasteten“ Barry Atsma früh verdeutlicht, wem der Titel gilt.

Schlicht „Liar“, Lügner, heißt die britisch-amerikanische Miniserie, auf der „Du sollst nicht lügen“ basiert. Der Handlungskern ist rasch skizziert: Die Cuxhavener Lehrerin Laura (Felicitas Woll) verbringt einen angenehmen Abend mit dem verwitweten Arzt Hendrik (Barry Atsma), Vater eines ihrer Schüler. Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist sie von Panik erfüllt, weiß zunächst aber nicht, warum: Sie hat nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Erst nach und nach wird ihr klar, dass Hendrik sie irgendwie gefügig gemacht und vergewaltigt hat. Sie geht zur Polizei und zeigt ihn an, doch da der Arzt versichert, der Sex sei einvernehmlich gewesen, steht Aussage gegen Aussage; sollte Hendrik ihr K.O.-Tropfen verabreicht haben, so sind sie längst nicht mehr nachweisbar.

Du sollst nicht lügenFoto: Sat 1 / Christine Schröder
Nur noch bruchstückhafte Erinnerungen. Laura ist sich sicher, vergewaltigt worden zu sein. Da mögliche K.O.-Tropfen nicht mehr nachweisbar sind, hat sie keine Beweise.

„Lena Lorenz“-Schöpferin Astrid Ströher – sie hat die britische Vorlage gemeinsam mit Dirk Morgenstern adaptiert – hat so eine Geschichte schon einmal erzählt: In ihrem Vergewaltigungsdrama „Es war einer von uns“ (2011) waren ebenfalls K.O.-Tropfen im Spiel. Auch für Sat 1 ist der Stoff nicht neu: In „Lautlose Tropfen“ (2019) spielte Stefanie Stappenbeck eine Frau, der bei einem Klassentreffen das gleiche Verbrechen widerfährt. Das Drama konzentrierte sich darauf, wie die Frau versucht, zurück in die Normalität zu finden, und wandelte sich erst gegen Ende zum Thriller. „Du sollst nicht lügen“ funktioniert ganz ähnlich: Laura ist fassungslos, dass Hendrik mit seiner Tat davonkommt. Die ermittelnde Kriminalpolizistin, Vanessa Lewandowski (Friederike Becht), ist zwar auf ihrer Seite, aber es gibt keinerlei Beweise für die Schuld des angesehenen Chirurgen. Um andere Frauen vor Hendrik zu warnen, stellt die Lehrerin ihre Anschuldigung ins Netz, aber nun dreht der Arzt den Spieß um und zeigt sie wegen Verleumdung an.

Sat 1 strahlt die Eigenproduktion als zweiteiligen Film aus. Die Handlung ist dramaturgisch jedoch als vierteilige Serie konzipiert, weshalb die ersten drei Folgen nach jeweils circa 45 Minuten einen Haken schlagen. Die zweite Wende ist allerdings nicht überraschend, weil die Besetzung von vornherein erwarten lässt, welche der zwei Versionen der Wahrheit entspricht. Felicitas Woll hat bereits in den anspruchsvollen Sat-1-Dramen „Die Ungehorsame“ (2015, über Gewalt in der Ehe) und „Nackt. Das Netz vergisst nie“ (2017, über eine Familie, die mit Nacktfotos ihrer Tochter erpresst wird) mitgewirkt, und der Niederländer Barry Atsma spielt regelmäßig Männer, denen man nicht vertrauen sollte: als undurchsichtiger Investor im Schlecker-Film „Alles muss raus – Eine Familie rechnet ab“ (2014, ZDF), als möglicher Serienmörder in der Link-Verfilmung „Die letzte Spur“ (2014), als Wolf im Schafspelz in „Das Monster von Kassel“, einem HR-„Tatort“ (2019), und schließlich in seiner besten Rolle als skrupelloser Chef der Investmentabteilung in den beiden Staffeln der ZDF-Serie „Bad Banks“ (2018, 2020). Das Schema ist ähnlich: Weil Atsma seine Rollen mit Charme und Charisma verkörpert, ist man hin und hergerissen zwischen Sympathie und dem Wunsch nach Gerechtigkeit; und natürlich beziehen Krimis ihren Reiz aus der Frage nach der Wahrheit. „Du sollst nicht lügen“ beantwortet diese Frage vielleicht zu früh, aber der Film ist in erster Linie ein Lehrstück über Kontrolle, Macht und Demütigung – und über Frauen, die sich wehren; als es zu einem weiteren Verbrechen kommt, rückt die Polizistin als dritte Figur ins Zentrum.

Du sollst nicht lügenFoto: Sat 1 / Christine Schröder
Die Idee, dass Tim (Sönke Möhring) noch während seiner Beziehung zu Laura eine Affäre mit deren Schwester (Sophie Pfennigstorf) hatte, die Hendriks Kollegin ist, stammt aus der britisch-amerikanischen Vorlage und sorgt für zusätzliche Dramatik.

Das britische Original (ITV, 2017) ist sechs Teile lang; das mag erklären, warum die Sat-1-Version zwischendurch ein paar Sprünge macht und einige Fragen offen lässt. Dass dies auch für den Schluss gilt, ist allerdings Absicht: Das überraschende Ende schuf bei „Liar“ die Basis für die vor einem Jahr ausgestrahlte zweite Staffel; ob auch Sat 1 eine Fortsetzung produzieren lässt, ist noch offen. Die mitunter elliptisch wirkende Erzählweise ist stellenweise recht souverän: Lauras Ex-Freund Tim (Sönke Möhring) ist uniformierter Polizist und überschreitet einige Male seine Kompetenzen, um ihr einen Gefallen zu tun. Dass dies nicht ohne Konsequenzen bleibt, zeigt sich erst bei genauerem Hinsehen: Irgendwann steht auf seiner Uniform nicht mehr „Polizei“, sondern „Security“. Die Idee, dass Tim noch während seiner Beziehung zu Laura eine Affäre mit deren Schwester (Sophie Pfennigstorf) hatte, die wiederum eine Kollegin von Hendrik ist, stammt allerdings aus der Vorlage und sorgt für zusätzliche Drama-Spannung, denn als Laura durch Zufall davon erfährt, fühlt sie sich erst recht einsam und verletzlich. Kein Wunder, dass sie schließlich bereit ist, illegale Methoden anzuwenden, wenn Hendrik nicht mit legalen Mitteln zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Der bislang beste Film von Jochen Alexander Freydank war die schmerzlich-schöne Tragikomödie „Und weg bist Du“ (2012) mit Christoph Maria Herbst als verliebter Tod und Annette Frier als unheilbar an Krebs erkrankte Schuhverkäuferin. Zuletzt hat der Regisseur ebenfalls für Sat 1 das Stalking-Drama „Dein Leben gehört mir“ (2019, mit Josefine Preuß) gedreht. Geschickt und gelegentlich fast unmerklich verknüpft Freydank die in jeder Hinsicht ungeschminkte Gegenwart mit den in warmen Farben gehaltenen Rückblenden. Was sich tatsächlich in jener verhängnisvollen Nacht zugetragen hat, zeigen die mit Ausnahme einer sehr effektvoll inszenierten Alptraumszene betont unspekulativen Bilder nicht, weil sich Laura ja nicht erinnern kann; deshalb ist es auch etwas irritierend, dass sie sich plötzlich sicher ist, Hendrik zurückgewiesen zu haben. Dafür gelingt es Kameramann Andreas Doub einige Male eindrucksvoll, auch optisch zu verdeutlichen, wie sehr sich Laura in die Enge getrieben fühlt. Auf Dauer nervig ist dagegen die gerade bei den Vernehmungsszenen unnötig unruhige Bildgestaltung. Überflüssig und wie eine Anleihe bei schlecht gemachten Reportagen sind auch die häufigen Zwischenschnitte auf die Hände der Befragten: als würden die Finger etwas verraten, was die Mimik nicht preisgeben soll. Für Abwechslung sorgt Lauras regelmäßiges Joggen durchs Watt (ihr Pendant in „Liar“ rudert). Die entsprechenden Bilder verbreiten zwar eine gewisse Trostlosigkeit, sind aber dennoch eindrucksvoll. (Text-Stand: 27.1.2021)

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Sat 1

Mit Felicitas Woll, Barry Atsma, Friederike Becht, Sophie Pfennigstorf, Sönke Möhring, Luke Matt Röntgen, Tino Mewes, Thomas Kügel, Adam Bousdoukos, Angelika Bartsch

Kamera: Andreas Doub

Szenenbild: Uwe Berthold

Kostüm: Peter Kilian

Schnitt: Ollie Lanvermann

Musik: Ingo Ludwig Frenzel, Rainer Oleak

Redaktion: Jana Kaun, Wolfgang Oppenrieder

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Mathias Lösel

Drehbuch: Astrid Ströher, Dirk Morgenstern – nach einer Vorlage von Harry und Jack Williams

Regie: Jochen Alexander Freydank

Quote: (1): 1,63 Mio. Zuschauer (5,1% MA); (2): 1,53 Mio.

EA: 09.02.2021 20:15 Uhr | Sat 1

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