Der verurteilte Sexualstraftäter Frank Molesch bekommt die Gelegenheit, sich im Krankenhaus von Dreileben von seiner verstorbenen Pflegemutter zu verabschieden. Wenig später ist er frei. Er hat es nicht darauf angelegt, aber die Gelegenheit hat sich ergeben: Plötzlich stand die Tür offen. Den Rest übernahm ein Wäschetransport. Es folgt ein Großalarm im Thüringer Wald. Plötzlich durchkämmen mehr Polizeibeamte als Wandertouristen die sagenumwobenen Orte alter Mythen. Derweil schlägt sich Molesch hungrig durchs Unterholz. Auf seinen Fersen ist auch Marcus Kreil, ein wegen Tinnitus und Gleichgewichtsstörungen krank geschriebener Kommissar, der es einfach nicht lassen kann. Er will die Bewegungen des entflohenen Straftäters antizipieren. Kreil versucht, zu rekonstruieren, wie Molesch gelebt hat, er schaut sich in dessen Elternhaus um, er will den Mörder verstehen. Immer wieder guckt er sich jenes „Mordvideo“ der Überwachungskamera an, auf dem die entscheidenden Momente der Tat fehlen. Stattdessen: eine Minute Dunkel.
Foto: WDR / Reinhold Vorschneider
„Ich suche die andere Perspektive“, sagt Kommissar Kreil. Ein paradigmatischer Satz auch für die dritte „Dreileben“-Episode „Eine Minute Dunkel“. Christoph Hochhäusler schaut auf den Thüringer Wald, auf einen leidenschaftlichen, kranken Ermittler und auf einen Gejagten. Beide Hauptfiguren verstecken sich vor den anderen, zwei Sonderlinge, zwei Fluchtwesen. Die andere Perspektive sucht der Filmemacher auch immer wieder innerhalb der Geschichte. „Es spielt eine große Rolle, was andere in uns sehen. Die Seelenpein des Monsters in ‚Frankenstein‘ angesichts der uniformen Panikreaktion auf seine Erscheinung – das hat mich immer sehr bewegt. Und plötzlich gibt es da dieses Kind, das ihn ohne Vorurteil sieht“, so Hochhäusler. Sein Film enthält eine sehr ähnliche Szene, in der ein Kind Moleschs Nähe sucht. Ein Sinnbild für Einsamkeit, eine Szene, der eine große Zärtlichkeit innewohnt.
Molesch scheint den romantischen Mythos Wald wieder aufleben zu lassen. Er lebt (die) Freiheit, spricht mit den Tieren, und es gibt Momente, in denen er geradezu in kindliche Glückszustände regrediert. „Aber mit der Verwilderung wächst auch die Angst, die Angst, die aus uns allen Monster machen kann“, so Hochhäusler. Die Motivketten in „Eine Minute Dunkel“ sind vielschichtig, zielen ins Metaphorische. Die Landschaft wird zum Akteur. Aus dem Spannungsfeld zwischen mächtigen Totalen (grandios das Bild, in dem sich Molesch von einer Riesenbrücke abseilt) und Detailaufnahmen von Gesichtern, von Igeln, Schnecken, Käfern zieht der Film einen Großteil seines Reizes. Erklärt wird wenig. Auch der Zuschauer wird in eine Art romantische Perspektive gedrängt. Genau hinsehen, den Dingen nachspüren und sich so ein Bild machen. Filmesehen als Ermittlertätigkeit. Zumindest darin ähnelt Hochhäuslers magisches Erwachsenen-Märchen einem Krimi. Das ist nicht unanstrengend. Eine Spur mehr „Twin Peaks“ hätte es ruhig sein können. (Text-Stand: 24.7.2011)