Eigentlich ist Wanda (Maria Dragus) mit vierzehn schon zu alt, um noch von einem Ballonrundflug zu träumen. Doch wie so Vieles in „Draußen ist Sommer“ ist auch der Ballon lediglich ein Bild, ein Bild für die Sehnsucht eines heranwachsenden Mädchens nach Stabilität. Ein Ballonrundflug „für die ganze Familie“ verspricht das Preisausschreiben auf der Müsli-Packung und es ist eben jene „ganze Familie“, die Wanda eigentlich gewinnen will.
Denn Zuhause herrscht Krisenstimmung. Gerade ist Wanda mit den Eltern und ihren beiden jüngeren Geschwistern in die Schweiz gezogen. Von diesem Neuanfang versprechen sich Mutter Anna (Nicolette Krebitz) und Vater Joachim (Wolfram Koch) auch frischen Wind für ihre durch einen Seitensprung zerrütte Ehe. Doch weder die Erwachsenen noch Wanda scheinen an das Gelingen dieser Unternehmung zu glauben. Der Satz „Das wird ein ganz toller Sommer in dem neuen Haus“ ist der Versuch optimistischer Autosuggestion, die von der ersten Filmminute an fühlbar zum Scheitern verurteilt ist. Der vermeintliche Sommer ist als solcher niemals spürbar, die Bilder sind blass statt lichtdurchflutet, anstelle strahlender Sonne scheinen hier stets Wolken am Himmel zu sein. Das ist und wird kein ganz toller Sommer.
„Man kann in ‚Draußen ist Sommer’ einer Familie dabei zuschauen, wie sie langsam zerbröselt. Es ist kein Ehedrama voller Geschrei und Gefühlsaufwallungen, nur die so alltägliche wie tieftraurige Geschichte einer schleichenden Entfremdung.“ (Christian Schröder, Tagesspiegel)
In ihrer melancholischen Introvertiertheit erinnert Wanda an die Heldinnen französischer Coming-of-Age-Dramen. Dazu passt auch die betont unaufgeregte Inszenierung, der es stets mehr um Atmosphäre und Emotionen als um Handlung oder Dialoge geht. „Draußen ist Sommer“ ist ganz und gar Wandas Geschichte. Im Voice Over wird sie vorübergehend zur Erzählerin wie sie auch innerhalb der Handlung immer wieder die Rolle einer Regisseurin übernimmt, sich Dialoge ausdenkt und schließlich gar im Kreis der Familie inszeniert – ein letzter Versuch die Familie auf rein performativer Ebene zu retten.
Die Kamera von Sten Mende ist der Heldin dabei stets ganz nah. Von dem viel gelobten riesigen Garten sehen die Zuschauer nur wenig, dafür umso mehr Nahaufnahmen des jungen Mädchens sowie Einstellungen aus ihrer Blickperspektive. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen bricht Regisseurin Friederike Jehn an wenigen Stellen mit diesem Konzept und zeigt Szenen, in den ihre Heldin nicht anwesend ist. Der Bruch mit Wandas exklusiver Perspektive schwächt unnötiger Weise die Intensität der Inszenierung. Der Handlungsverlauf – Wandas Schwierigkeiten, sich im Klassenverband zu integrieren und die zu Enttäuschung und gar Missbrauch führenden Männerbekanntschaften – wirkt ein wenig, als habe sich Autorin Lara Schützsack primär an schon Dagewesenem orientiert. Auch die Verwandlung des nerdigen, aber freundlichen Nachbarsjungen in einen neurotischen Stalker ist allzu absehbar.
Und doch entwickelt „Draußen ist Sommer“ von Minute zu Minute mehr Intensität. Denn es geht hier eben nicht um die Geschichte, nicht um die Dialoge, nicht darum, was die Menschen sagen. Es geht um das was ungesagt bleibt, um Gefühle und Ängste. Hin- und hergerissen zwischen kindlichen und erwachsenen Sehnsüchten verliert die pubertierende Wanda den Boden unter den Füßen. Mit ihr erlebt der Zuschauer die Verzweiflung über die gedanklich stets abwesenden Eltern, die lieber fadenscheinigen Ausreden Glauben schenken, anstatt sich mit den Problemen ihrer heranwachsenden Tochter auseinanderzusetzen.
„Die luftige, und doch sehr genaue Art, wie Friederike Jehn diesen Menschen ihre Gefühle ablauscht, hat etwas fast Dokumentarisches, wären da nicht immer wieder diese flüchtigen Momente, in denen sich eine leise Poesie ausbreitet: ein Tagtraum, in dem die Älteste auf der Wiese vor der Schule ihre beiden Eltern in den flatternden Stoffbahnen eines Ballons sieht, in denen sie sich erbittert streiten; ein Swimmingpool, in dem lauter Couponbilder für ein Cornflakes-Preisausschreiben schwimmen, in dem man einen Ballonflug gewinnen kann; das Flattern der Ballon-Seide, die bunten Farben, der Traum von der Schwerelosigkeit, der Wunsch abzuheben.“ (Anke Sterneborg, epd Medien)
Friederike Jehn arbeitet mit Motiven und Farben, um ihren Zuschauern auf sehr subtile Art und Weise ein Gefühl für ihre Heldin zu vermitteln. So erreicht sie auf Seiten des Zuschauers ein Erleben anstelle eines Verstehens der Situation. Die eine oder andere Handlung Wandas mag rein rational schwer nachzuvollziehen sein – wie beispielsweise das manische Turmspringen kurz vor Ende des Films – und doch erlaubt Jehn auch oder insbesondere in diesen Momenten eine tiefe Einfühlung in ihre Heldin, ein emotionales Verständnis.
„Draußen ist Sommer“ endet wie der Film begonnen hat. Ein Auto wird bepackt, es herrscht Aufbruchsstimmung. Im Gegensatz zum Einstieg aber, der mit schwarzem Bildschirm rein akustisch geschah, herrscht nun Klarheit, Sichtbarkeit. Die Zeit der Autosuggestion ist vorbei. Darin liegt ein wenig Bitterkeit, aber auch jede Menge Hoffnung. (Text-Stand: 3.11.2015)