Christian Alvarts Weg von „Antikörper“ zu den Til-Schweiger-„Tatort“-Episoden
Es gibt hierzulande kaum noch Regisseure, die sich an Genrekino wagen: weil alle wissen, dass sie im Vergleich zu Produktionen aus Hollywood schlechte Karten haben. Mit Talent hat das nichts zu tun; mit Budgets dagegen umso mehr. Deshalb war früh klar, dass jemand wie Christian Alvart nach Hollywood gehört. Sein erster großer Film, der ebenso blutige wie spannende Thriller „Antikörper“ (2005), verdeutlichte zwei Dinge: Der Mann versteht sein Handwerk; und das deutsche Kino ist für ihn nicht groß genug. Seine nächsten Filme, „Fall 39“ und „Pandorum“ (beide 2009), sind in Amerika entstanden und konnten sich sehen lassen. Zurück in Deutschland hat er zwei herausragende „Tatort“-Episoden aus Kiel gedreht („Borowski und der coole Hund“, 2011; „Borowski und der stille Gast“, 2012) und dazwischen zwar sehenswert, aber letztlich vergeblich versucht, den Sat-1-Klassiker „Wolffs Revier“ als Filmreihe zu reanimieren. Alvarts große Stunde schlug, als er im Auftrag des NDR Action-Kino fürs Fernsehen inszenieren durfte. Der erste Auftritt von Nick Tschiller als neuer Hamburger „Tatort“-Kommissar („Willkommen in Hamburg“) hatte im März 2013 12,74 Millionen Zuschauer, und auch „Kopfgeld“ erreichte ein Jahr später immer noch beachtliche 10,12 Millionen. Beim Zweiteiler „Der große Schmerz“/„Fegefeuer“ (Januar 2016) waren es im Schnitt nur rund 8 Millionen; immer noch viel, keine Frage, aber für einen „Tatort“ bloß Durchschnitt. Eine weitaus größere Enttäuschung war jedoch ein immerhin 8 Millionen Euro teurer Kinoausflug: „Tschiller: Off Duty“, von Hauptdarsteller und Regisseur mit ihren Firmen Barefoot (Schweiger) und Syrreal Entertainment (Alvart) gemeinsam produziert, hatte im Frühjahr 2016 nach sechs Wochen gerade mal rund 280.000 Besucher.
Aggression liegt in der Luft: Ein deutsch-türkischer Fußballstar wird ermordet
Natürlich muss man diese Vorgeschichte nicht kennen, um sich „Dogs of Berlin“ anzuschauen, aber sie erklärt Manches. Vermutlich war Alvart heilfroh, seine Ideen endlich ohne Rücksicht auf öffentlich-rechtliche Bedenken oder Jugendschutzvorgaben umsetzen zu können. Die erste von zehn Folgen beginnt gleich mal mit einer expliziten Sexszene; weitere folgen. Der Gewaltanteil ist allerdings deutlich höher. Mehrfach werden Menschen auf brutalste Weise zusammengeschlagen und -getreten, mitunter auch ebenso ansatz- wie grundlos. Permanent liegt Aggression in der Luft. Berlin, legt Alvart nahe, wird von der organisierten Kriminalität beherrscht. Niemand wagt es, sich mit dem arabischen Drogenclan Tarik-Amir anzulegen – außer Erol Birkan (Fahri Yardim); der Drogenfahnder hat mit dem Clanboss (Sinan Farhangmehr) noch eine Rechnung offen, die bis in die gemeinsamen Kindertage im Kiez zurückreicht. Hauptfigur ist zunächst jedoch Kurt Grimmer (Felix Kramer, bislang vor allem als Kommissar im „Zürich-Krimi“ aufgefallen) vom LKA, der mit dem gewohnten Bild der Fernsehermittler allerdings nichts gemeinsam hat. Schon seine Einführung ist höchst ungewöhnlich: Erst wird er beim Sex gestört, weil sein Baby eine frische Windel braucht, dann sieht er beim Rauchen auf dem Balkon Blaulicht. Neugierig wandert er samt Säugling zum Tatort: Ein junger Mann ist erschlagen worden. Verblüfft stellt Grimmer fest, dass es sich um den aktuell größten deutschen Fußballstar handelt. Der Mann hat türkische Wurzeln; die Türken haben ihm nie verziehen, dass er nicht für die Heimat seiner Eltern spielt. Das ist Grimmer aber völlig egal, er hat ohnehin keine Ahnung von Fußball, doch dafür eine Idee: Wenn es ihm gelingt, den Tod des Weltfußballers lange genug geheim zu halten, kann er vielleicht seine Schulden bei der kroatischen Wettmafia begleichen: Am nächsten Tag spielt die deutsche Mannschaft gegen die Türkei, es geht um die WM-Qualifikation. Niemand würde ernsthaft an einem Sieg der Deutschen zweifeln; es sei denn, Grimmer teilt dem Team unmittelbar vor dem Anpfiff mit, dass sein Star gestorben ist.
Der Serien-Bonus wird zum Malus: Alvart hat zu viel Zeit für Nebensächliches
Als Story eines handelsüblichen Krimis wäre das absurd, denn Grimmer verschwendet nicht eine Sekunde an die Aufklärung des Mordes; sein ganzes Streben gilt dem Verschleppen der Ermittlungen. Deshalb ist er auch wenig begeistert, als der Polizeidirektor (Urs Rechn) Birkan zum zweiten Leiter der Soko ernennt, damit ein Polizist mit türkischen Wurzeln beteiligt ist. An diesem Punkt könnte sich „Dogs of Berlin“ zu einer Geschichte über zwei Polizisten entwickeln, die tiefe Ressentiments gegeneinander hegen, sich aber im Angesicht des Verbrechens irgendwie zusammenraufen. Nun erweist sich jedoch als dramaturgischer Malus, was doch eigentlich der große Bonus einer knapp zehn Stunden langen horizontal erzählten Serie sein sollte: Alvart hat zuviel Zeit; deshalb gibt es eine Vielzahl von Nebenschauplätzen. Gleich mehrere dieser Exkurse erinnern an Abschweifungen in einem Roman, die getrost überflogen werden können, weil sie nichts mit dem Handlungskern zu tun haben; einige wirken zudem wie ein Vorwand, um namhaften Gastdarstellern einen kurzen plakativen Auftritt zu ermöglichen. So wird beispielsweise Grimmers Frau Paula (Katharina Schüttler) aufs Übelste von ihrer vorbestraften jungen Angestellten (Jasna Fritzi Bauer) geschlagen und gedemütigt, als sie das Mädchen zur Rede stellt, weil es in die Kasse gegriffen hat. Die bedrückende Szene lässt sich immerhin als allerdings umständliche Einführung einer weiteren Figur rechtfertigen: Paula leert anschließend erst mal eine Flasche Wodka und bittet ihre Schwiegermutter, sich um die Kinder zu kümmern. Grammer gehörte früher zu einer rechtsradikalen Gruppe, sein Bruder ist immer noch dabei, von ihm hat der Polizist das Geld für die Wette geliehen. Als die Mutter der beiden auftaucht, erklärt sich auch, wes Geistes Kinder die Söhne sind: Katrin Sass verkörpert die Frau als abgrundtief böse Nazihexe. Die restlichen Rechtsradikalen entsprechen den üblichen dumpfen Klischees. Als die Hohlköpfe beim Länderspiel über ein deutsches Tor jubeln, müssen sie erst darauf aufmerksam gemacht werden, dass der Torschütze „ein gottverdammter Nigger“ war.
Die narrativen Exkurse hängen in der Luft, nicht alle Darsteller überzeugen
Weitere Exkurse gelten den Machenschaften des Drogenclans sowie den verschiedenen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Anführern, die exakt so ablaufen, wie sie das in Produktionen dieser Art immer tun: viel Gerade von Familie, viel Macho-Gehabe, beiläufige Brutalität. Immerhin haben diese Szenen auch dank der beiden glaubwürdigen Brüder-Darsteller Kais Setti und Sinan Farhangmehr eine gewisse Wucht; andere Nebenwege sind einfach nur Umwege. Dass gerade die Darsteller der Nachwuchsganoven, die ihre Zukunft eher im Rap als im Verbrechen sehen, einem erfahrenen Gangstermimen wie Misel Maticevic nicht ansatzweise das Wasser reichen können, versteht sich ohnehin von selbst. Und so sind die beiden Polizisten auch deshalb am interessantesten, weil alle anderen viel zu sehr im Klischee verharren. Trotzdem hat Alvart der Kraft dieser Figuren nicht getraut und sie deshalb mit weiteren Merkmalen versehen: Birkan ist schwul, Grammer hat neben Gattin Paula noch eine Zweitfamilie in Marzahn; nur deshalb konnte er auch umgehend am Tatort sein. Freundin Sabine (Anna Maria Mühe) lebt von Hartz IV, platziert die Wette bei einem von David Bennent recht schräg verkörperten Buchmacher und wirft sich später vor das Auto ihrer Sachbearbeiterin vom Sozialamt. Die tollkühne Aktion hinterlässt allerdings bloß eine kleine Verletzung auf der Stirn. Birkan ist ebenfalls erstaunlich schnell wieder auf den Beinen, nachdem er von einer vermummten Gruppe krankenhausreif geprügelt worden ist, und auch bei Paula hat die Attacke ihrer Angestellten keine größeren Nachwirkungen hinterlassen; ein Beleg dafür, dass die Gewaltszenen mitunter nur dem Selbstzweck dienen. Andere Einfälle genügen ebenfalls sich selbst: Dem toten Kicker fehlt ein Finger. Als Grimmer kurz drauf einen herrenlosen Hund mitnimmt, stellt sich heraus: Der Vierbeiner gehörte dem Fußballer und hat den Finger gefressen. Für die Geschichte ist das Detail jedoch ähnlich unwesentlich wie die Tatsache, dass ein junger Polizist Wachtmeister heißt.
Felix Kramer & Fahri Yardim tragen die Serie, und die Bildgestaltung ist kinoreif
Dass „Dogs of Berlin“ dennoch sehenswert ist, liegt einerseits an den beiden männlichen Hauptdarstellern, deren Präsenz die Serie auch über die weniger gelungenen Momente hinweg trägt, und andererseits an der der kinoreifen Bildgestaltung von Frank Lamm und Christoph Krauss. Schon die erste Einstellung nach dem Prolog ist ein Flug, der vor dem Fenster von Paulas Apartment im Wohnsilo endet. Kurz drauf zeigen Alvart und Lamm, wie man Drohnen sinnvoll einsetzt, als die Kamera vom Balkon aus in Richtung Blaulicht fliegt und auf der Straße Gramm einholt, der in Adiletten zum Tatort schlappt. Ebenso überflüssig wie die gelegentlichen unmotivierten Zeitlupenstudien ist dagegen die Einführung neuer Figuren mit einem geräuschvollen Zoom in die Nahaufnahme. Ein echter Ausreißer nach unten sind allerdings die an ungelenke Werbespots für Wettanbieter erinnernden Bilder vom Fußballspiel im Olympiastadion. Die Platzierung nur eines Produktnamens als Bandenwerbung, der dafür umso aufdringlicher hervorgehoben wird, verstärkt den insgesamt sehr unglaubwürdigen Eindruck der Spielszenen. Spätestens in solchen Momenten wird deutlich, was der Serie fehlt. Regisseure schimpfen zwar gern über öffentlich-rechtliche Redakteure, die aus Sicht der Kreativen viele Filme nicht besser, sondern schlechter machten; „Dogs of Berlin“, zweite deutsche Netflix-Eigenproduktion nach „Dark“, ist jedoch ein gutes Beispiel dafür, dass eine ordnende redaktionelle Hand für eine stringentere Dramaturgie gesorgt hätte.