Disko 76

Luise Aschenbrenner, Schümann, Holdenrieder, Loibl. Die Flucht aus dem grauen Alltag

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Foto Rainer Tittelbach

Nach einem Disko-Erweckungserlebnis auf einer Party der US-Army spürt die 21-jährige Doro, dass es da noch etwas anderes gibt als ihr spießiges Eheleben. Für sie steht fest: Auch das verstaubte Bochum braucht etwas Glamour, braucht eine Disko. Es fragt sich nur, wie lange es ihr gelingt, ein Doppelleben zu führen als brave Ehefrau und als Betreiberin einer Diskothek. Die RTL-Serie „Disko 76“ (UFA Fiction) funktioniert völlig anders als die meisten zeitgeschichtlichen Filme oder Serien. Die Musik beschwingt nicht nur die Heldin im Film, sondern (im Idealfall) auch das Publikum. Die Auswahl der Songs ist gelungen. Wie in einem Musikfilm oder Musical sind sie elementarer Bestandteil und werden zu einem Klangteppich gewoben, der Musikkenner in beste Stimmung versetzt. Auch die Tanz-Einlagen à la „Saturday Night Fever“ und „Dirty Dancing“ sind mitunter atemberaubend gut. Und auch die Besetzung, allen voran Luise Aschenbrenner und Jannik Schümann, passt vorzüglich ins Bild. In den musikalisch-emotionalen Flow fließen die Themen der Zeit (Fahnenflucht, linke Szene, Emanzipation, WG-Leben, Generationenkonflikte) beiläufig und eher augenzwinkernd komödiantisch ein. Der Erlebnis- und Unterhaltungs-Faktor übertrifft die Relevanz der Geschichte & die Originalität der Dramaturgie deutlich. In diesem Fall ist das gut so!

Es ist das Jahr 1976. In Bochum herrscht Aufbruchstimmung, jedenfalls bei Doro (Luise Aschenbrenner): Die 21-Jährige merkt, dass es noch etwas anderes gibt als ihre Ehe, die sie vom spießigen Elternhaus erlösen sollte, die mittlerweile aber selbst zum Käfig geworden ist. Ehemann Matthias (Moritz Jahn) hat gerade „für sie“ ihren geliebten Job im Kindergarten gekündigt, er drängt auf ein Baby und die Erfüllung der häuslichen Pflichten. Mit der Notlüge, bereits schwanger zu sein, gewinnt sie ein wenig Zeit. Dumm nur, dass ihr Göttergatte bei Doros Familie, den Eltern (Aljoscha Stadelmann, Jule Böwe) und den Geschwistern Frank (Merlin Sandmeyer), Johanna (Vanessa Loibl) und Georg (Jonas Holdenrieder), der sich gerade vom Bund abgesetzt hat, das freudige Ereignis sofort herausposaunt. Irgendetwas muss geschehen – und es geschieht. Auf einer Air-Base-Party der US-Army bekommt sie die Magie von Funk-Music und Disco-Dance zu spüren – und für sie steht fest: Auch das verstaubte Bochum braucht etwas Glamour, braucht eine Disko. Nachdem sie ihren Vater beinahe und ihren Onkel, Besitzer einer Kneipe, tatsächlich ins Jenseits befördert hat, ist die passende Location bald gefunden. Gemeinsam mit ihrem fahnenflüchtigen Bruder will sie die Sache wuppen. Es fragt sich nur, wie lange es ihr gelingt, nebenbei noch die werdende Mutter zu spielen. Denn sie hat sich in den coolen Tanzboden-Gott Robert (Jannik Schümann) verguckt.

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Es dauert lange, bis Doro (Luise Aschenbrenner) und Frank (Jannik Schümann) zum ersten Mal miteinander tanzen. Ob sie es auch ins Bett schaffen, ist die große Frage. Der geheimnisvolle junge Mann mit DDR-Vergangenheit bevorzugt reifere Damen.

Das Jahr ist gut gewählt. So muss sich „Disko 76“ nicht mit konkreten politischen Ereignissen herumschlagen, sondern kann unbeschwert mit der jungen Hauptfigur auf Entdeckungsreise gehen. 1977 wäre historisch gesehen passender, kam in diesem Jahr doch „Saturday Night Fever“ in die Kinos, hierzulande der Startschuss zur Disco-Welle. 1977 war aber auch das Jahr des Deutschen Herbsts, mit Schleyer-Entführung, Mogadischu, den Stammheim-Toten. Für die individuellen Fluchten aus dem grauen Alltag eignet sich das Jahr zuvor also weitaus besser. Nur einmal, ganz kurz, vernimmt man den Namen „Ulrike Meinhof“ aus dem Autoradio. Und so sorgt in der RTL-Serie nicht „Nur Samstag Nacht“, so der deutsche Titel des John-Travolta-Kinohits, für die Initialzündung in Sachen Dancefloor-Befreiung, sondern ein Ausflug zu den musikalisch-kulturellen Wurzeln des Phänomens. Bei den vornehmlich schwarzen GIs macht Doro ihre ersten Disco-Schritte ausschließlich zur Black Music zwischen Soul-Funk (Stevie Wonder, Diana Ross) und gehobenem Disco-Sound (KC and the Sunshine Band). Später, wenn sich das zum Nachtleben erwachte Disko-Girlie im Düsseldorfer Edeltanztempel „Panoptikum“, in dem eine gewisse Eva Kallwich (Natalia Wörner) ein strenges Regiment führt, ihre Inspiration holt, oder wenn sie mit der eigenen Disko selbst „zur Nacht ruft“, dann hört man neben dem, was schwarz groovt (The Trammps, Barry White, James Brown), auch das, was produktionstechnisch weiß hoppelt (Penny McLean, Boney M) und stampft (Silver Convention) oder eher poppig-schlagerhaft (Abba, Rubettes) klingt.

Soundtrack (Folgen 1-3):
Fleetwood Mach („Landslide“ / „Don’t Stop“), Lynn Castle („The Lady Barber“), Sister Sledge („We Are the Family“), Vicky Leandros („Ich lieb das Leben“), Stevie Wonder („Superstition“), Bata Illic („Schwarze Madonna“), KC & the Sunshine Band („That’s the Way I Like It“ / „I’m Your Boogie Man“), Diana Ross („Love Hangover“), Rex Gildo („Fiesta Mexicana“), Roberto Blanco („Ein bisschen Spaß muss sein“), The Emotions („Best Of My Love“), John Lennon („Working Class Hero“), Kraftwerk („Das Model“), Four Seasons („December, 1963 – Oh What A Night“), Janko Nilovic („Pop Impressions“), Al Green („Let’s Stay Together“), Les Humphries Singers („Mama Lou“), Silver Convention („Fly Robin Fly“ / „Get Up And Boogie“), Rose Royce („Car Wash“), Tavares („Heaven Must Be Missing an Angel“), Titus Turner („Hungry Man“), Abba („SOS“ / „Ring Ring“), The Commodores („Machine Gun“), Vicki Sue Robinson („Turn the Beat Around“), Carl Douglas („Kung Fu Fighting“), Boney M („Fever“ / „Gotta Go Home“ / „Daddy Cool“), Slade („Far Far Away“), Billy Preston („Outa-Space“), Barry White („You’re The First, the Last, My Everything“), Penny McLean („Lady Bump“), Rubettes („Sugar Baby Love“), The Trammps („Disco Inferno“), BTO („You Ain’t Seen Nothing Yet“), Candi Staton („Young Hearts Run Free“), Chicago („25 Or 6 To 4“), Blue Sude („Hooked On A Feeling“), James Brown („Funky President“), Bee Gees („Jive Talking“), Jackson 5 („ABC“), Elton John & Kiki Dee („Don’t Go Breaking My Heart“), Donovan („The Sun Is A Very Magic Fellow“), Paul Simon („50 Ways To Leave Your Lover“), Cat Stevens („Here Comes My Baby“), Harry Nilsson („Without You“), MFSB („Sexy“), Van Morrison („Brown Eyed Girl“), Lobo („Don’t Expect Me To Be Your Friend“), April Steb´vens („Kiss Me Tiger“)

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Dieser coole Tänzer (Jannik Schümann) weckt jedenfalls Begehrlichkeiten bei der Ehefrau auf der Flucht. Aber da ist ja noch diese Femme fatale (Emma Droganova / Nova). Beide „Beziehungen“ sind geprägt vom ständigen Spiel mit Nähe & Distanz.

Die Songauswahl ist gelungen. Auch wenn nicht alle Titel den Geschmack eines Jeden treffen können, so gibt doch der umfangreiche Soundtrack (siehe Kästen) nicht nur die Disko-Realität anno 1976 ziemlich treffend wieder, sondern er ist auch gut auf die Geschichte, die Charaktere und die Situationen abgestimmt. Wie in Musikfilmen oder Kinomusicals kommentieren auch in dieser UFA-Fiction-Produktion für RTL Songs die Stimmungslage einer Figur (so beispielsweise bei den Fleetwood-Mac-Songs „Landslide“ und „Go Your Own Way“). Und ähnlich wie bei „Saturday Night Fever“ gibt es großartige Tanz-Nummern auf dem leuchten Dancefloor. Auch ein Tanzwettbewerb inklusive Proben dürfen nicht fehlen und kommen vielen Zuschauer:innen sicherlich bekannt vor: der professionelle Vortänzer und das unbedarfte Mauerblümchen – „Dirty Dancing“ lässt nicht nur bei der Hebefigur schön grüßen. Die Songs, die nicht zur Handlung gehören, sondern Teil der Inszenierung sind, überraschen mitunter (Van Morrison, Harry Nilsson, Led Zeppelin, ELO, Cream, Iggy Pop, Bob Dylan) und werden für Musikkenner jener Jahre zur pop- und rockmusikalischen Wundertüte, die ein privates Titel-Interpreten-Quiz nach sich ziehen kann. Das ist nur ein Grund, weshalb „Disko 76“ völlig anders funktioniert als die meisten zeitgeschichtlichen Filme oder Serien. Die Musik beschwingt nicht nur die Heldin im Film, sondern auch das Publikum.

Soundtrack (Folge 4):
Donna Summer („Hot Stuff“), Jackson 5 („Dancing Machine“), LaBelle („Lady Marmalade“), Boney M („Sunny“), Temptations („Papa Was A Rolling Stone“), Led Zeppelin („Babe, I’m Gonna Leave You“), Cat Stevens („The Wind“), David Bowie („Rebel Rebel“), Hot Chocolate („Disco Queen“), James Brown („I Feel Good“), Alice Cooper („I Never Cry“), Tina Charles („I Love To Love“), Harold Melvin & the Blue Notes („Don’t Leave Me This Way“), The Real Thing („You To Me Are Everything“), Billy Ocean („Love Really Hurts Without You“), Blackfoot („Left Turn On a Red Light“)

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Auch optisch lassen sich die Macher*innen immer wieder Aufregendes einfallen. Und dann ist da natürlich Luise Aschenbrenner. Jeder, der in den 1970er Jahren gelebt hat, hat ein solches Girlie wie ihre Doro schon mal gesehen. Die an Teenager-Tagebücher erinnernden Erläuterungen ihrer Ich-Erzählerin sind gewöhnungsbedürftig, um die Handlung zu strukturieren und zu beschleunigen sind sie jedoch absolut notwendig.

Gern verurteilen Kritiker so etwas als Nummernrevue. Hier aber sind wie in einem Musical die Musikeinlagen elementare Bestandteile, nur komponiert sie eben kein Gershwin, kein Bernstein oder Lloyd Webber, sondern sie werden weniger kunstvoll zu einem populären Klangteppich gewoben, der Szenen und Sequenzen (ver)bindet und so den Kritiker in einen mitunter geradezu euphorisierenden Flow versetzt. Es fragt sich, ob dieses Musik-Bombardement universell verfängt und wie jüngere diesen vorzüglichen Soundtrack aufnehmen. Anfangs stehen die dominant mit Musik unterlegten Szenen und die Tanz-Situationen nahezu gleichberechtigt nebeneinander, in den Folgen vier bis sechs wird die Musik deutlich zurückgefahren, dafür spitzen sich die kleinen und größeren Dramen zu: die Fahnenflucht, eine echte und die falsche Schwangerschaft, der Traum von Johanna, Pilotin zu werden, der Niedergang des Feinkostladens, den Doros Eltern einfach nicht aufhalten können. Einen besonderen Stellenwert bekommt die Konkurrenz zwischen der Disko Bochum und dem Düsseldorfer Panoptikum. Und irgendwann scheint es vorbei zu sein, mit dem Disko-Fieber im Pott. Aber auch die Beziehung zwischen Doro und Robert, dem eine seltsame DDR-Geschichte und eine noch sehr viel seltsamere als ein Mann für gewisse Stunden angedichtet wird, ist ein Drahtseilakt. Wie die Tänze im Film, so ist auch die „Liebe“ zwischen den beiden, ja sogar der erste Sex, ein permanentes Spiel zwischen Nähe und Distanz.

Soundtrack (Folge 5):
ELO („Living Thing“), Bonnie Raitt („Too Long At The Fair“), Queen („Killer Queen“), Brigitte Bardot („La Madrague“), Harold Melvin & the Blue Notes („Wake Me Everybody“), Gary Toms Empire („7-6-5-4-3-2-1 Blow Your Whistle“), Dean Martin („Sway“), Van McCoy („The Hustle“), Stevie Wonder („Signed, Sealed, Delivered, I’m Yours“), Jackson 5 („I Want you Back“), Kool and the Gang („Jungle Boogie“), Rolling Stones („Paint It Black“)

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Wie in Musikfilmen oder Filmmusicals ist die Handlung in „Disko 76“ überschaubar. Auch die Dramaturgie entspricht Filmen wie „Grease“ oder „Dirty Dancing“. Dafür gibt es rasante Tanz-Einlagen und – was vor allem zählt – Musik, Musik, Musik.

Bei einer Serie wie „Disko 76“, bei der der Erlebnis- und Unterhaltungs-Faktor die Relevanz der Geschichte und die Originalität der Dramaturgie bei Weitem übertrifft, kommt dem Ensemble (kein einziger Ausfall!) und besonders der Hauptfigur, die auch als allwissende und anfangs gewöhnungsbedürftige Ich-Erzählerin auftritt, eine entscheidende Rolle zu. Bei aller komödiantischer Überhöhung stellt sich die Frage, ob man den Figuren ihre Rollen abnehmen und ob man Doro und diesem wankelmütigen Frank ihre Gefühle glauben kann. Man kann. Luise Aschenbrenner überzeugt als Doro, weil sie die unterschiedlichsten Tonlagen zu meistern versteht, aber auch, weil sie den Typus junge Frau jener Jahre perfekt verkörpert und sich zugleich kleinbürgerliche Bravheit wie jugendliche Frische in Mimik, Körpersprache, Kostüm und Maske widerspiegeln. So ein Girlie hat jeder, der in den 1970er Jahren gelebt hat, schon mal gesehen. Robert, das Objekt ihres Begehrens, ist ein Mann mit einer tragischen Vergangenheit, möglicherweise auch einer dunklen Gegenwart. Jannis Schümann ist die ideale Besetzung für diesen attraktiven, anfangs etwas schnöseligen Schönling mit der geheimnisvollen Aura und dem leichten Silberblick. Eine ähnliche Charakter-Farbe darf in einer kleineren, aber sehr markanten Rolle Emma Drogunova (seit Neustem offenbar Emma Nova) an den Tag legen beziehungsweise in der Nacht ausleben. Ob die Zuschauer:innen das, was sie, diese narzisstisch angehauchte Femme fatale, und das herzallerliebste Mauerblümchen am Ende gemeinsam aushecken, zu Gesicht bekommen werden, ist jedoch fraglich. Dass die Serie – geschrieben bis auf eine Ausnahme von vier Frauen (Headautorin Linda Brieda; Dorothee Fesel, Judy Horney, Antonia Rothe-Liermann) und inszeniert von zwei Männern (Florian Knittel, Lars Montag) – nach der RTL+-Premiere ihre Free-TV-Ausstrahlung auf Nitro hat, macht leider wenig Hoffnung auf eine Fortsetzung.

Soundtrack (Folge 6):
ELO („Don’t Bring Me Down“), Bob Dylan („I Want You“), Gordon Lightfoot („If You Could Read My Mind“), Cream („I Feel Free“), Gloria Gaynor („I Never Can Say Goodbye“), Donna Summer („I Feel Love“), Iggy Pop („The Passenger“)

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Mit Luise Aschenbrenner, Jannik Schümann, Jonas Holdenrieder, Vanessa Loibl, Aljoscha Stadelmann, Merlin Sandmeyer, Jule Böwe, Natalia Wörner, Julia Jendrossek, Emma Drogunova, Farba Dieng, Moritz Jahn, Jacob Matschenz

Kamera: Felix Poplawsky

Szenenbild: Thomas Stammer, Lea Walloschke, Oliver Hoese

Kostüm: Wiebke Kratz

Schnitt: Anna Nekarda, Ann-Sophe Schweizer, David J. Achilles, Benjamin Hembus, Julia Dupuis

Musik: Christopher Bremus

Redaktion: Hauke Bartel

Produktionsfirma: UFA Fiction

Produktion: Sinah Swyter

Headautor*in: Linda Brieda

Drehbuch: Linda Brieda, Dorothee Fesel, Judy Horney, Antonia Rothe-Liermann, Janosch Kosack – nach einer Idee von Benjamin Benedict

Regie: Florian Knittel, Lars Montag

EA: 28.03.2024 10:00 Uhr | RTL+

weitere EA: 01.04.2024 20:15 Uhr | Nitro

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