Symcha Zweifler (Mike Burstyn) hat den Familienrat in sein Büro einberufen. Der alte Patron des Familienunternehmens will an Investoren verkaufen, an „seelenlose Roboter“, schimpft seine entsetzte Tochter Mimi (Sunnyi Melles), die sich in dramatischem Ton schon mal über ihre noch gar nicht ausgesprochene Kündigung beschwert. Symchas Frau Lilka (Eleanor Reissa) ist wie immer besorgt und ängstlich, Enkel Samuel (Aaron Altaras) signalisiert Zustimmung, sein jüngerer Bruder Leon (Leo Altaras) schweigt. Aus Israel ist Enkelin Dana (Deleila Piasko), die Schwester von Samuel und Leon, per Videocall zugeschaltet. Mimis Schwester Tammi (Ute Lemper), Symchas und Lilkas zweite Tochter, die in New York weilt, bekommt am Telefon aufgrund der schlechten Verbindung gar nichts mit. „Du bist so hilfreich wie die Matze nach Pessach“, ätzt Mimi, die auch das Laptop einfach zuklappt, als Dana sich nach Einzelheiten des geplanten Deals erkundigen will. Während die Großeltern miteinander Jiddisch reden, sprechen ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch. In der jungen Generation ist außerdem Englisch selbstverständlich. Hinzu kommen im Verlauf der Serie auch ein bisschen Hebräisch, Russisch und Chinesisch (allerdings nur als Lernprogramm auf dem Smartphone). Zugleich vermischt sich immer wieder alles, dann verfallen die Protagonist:innen in ein tolles, babylonisches Kuddelmuddel. Dennoch wirkt nichts angelernt und aufgesagt, es ist klar erkennbar, dass die Produktion auch auf sprachliche Authentizität großen Wert gelegt hat.
Bei dieser aufgrund der Vielzahl der Personen leicht verwirrenden familiären Einführungsszene geht es jedenfalls ums Ganze, und bei den Zweiflers aus Frankfurt am Main heißt das: Es geht ums Essen. Denn Symcha Zweifler hat, nachdem er die Lager der Nazis überlebt hat, im Verlauf der Jahrzehnte ein Delikatessen-Geschäft im Bahnhofsviertel zu einer Frankfurter Institution gemacht – mit möglicherweise nicht ganz legalen Mitteln, denn „Juden-Siggi“, den Martin Wuttke mit Lust zum Kleinganoven-Klischee als Genre-Zitat spielt, erpresst den alten „Delikatessen-König“. Die Wand hinter Symcha Zweiflers Schreibtisch ist reich bestückt mit Auszeichnungen und Fotos von Prominenten, das Restaurant der „Zweiflers“ ist proppenvoll. Mimi hält Hof und bestellt für einen Stammkunden einen Wodkakuchen. Samuel, der für den Familienrat extra aus Berlin angereist ist, wird sofort etwas zu essen in die Hand gedrückt. Und die Szenen, in denen gemeinsam gekocht und gegessen wird, die Bilder von traditionellen und modernen Gerichten, sind der rote – und ausgesprochen sinnliche – Faden dieser Serie. Manchmal sind sie nur ganz beiläufig in die Handlung eingeflochten, dann wieder sind sie ein scharf gewürzter satirischer Kommentar wie beim Essen mit dem bornierten Chef eines Musiklabels in Berlin. Dann schneidet das Messer kraftvoll ins Spanferkel, während das scheinbar aufgeklärte Gerede in klassische Stereotype mündet. Gerade in den Gesprächen am Tisch geht es häufig ans Eingemachte. Der Genuss, der Überfluss an Lebensfreude, auch mal Abscheu und Ekel – die Emotionen des Dramas spiegeln sich in der Inszenierung der Speisen und des Essens wider. Zugleich ist dieses zentrale Motiv ebenso wenig wie die großartig zusammengestellte Musik, die den Facettenreichtum der Serie unterstreicht und einfach einen tollen Sound liefert, auf jüdische Traditionen und Kultur beschränkt. Zu Beginn begleitet der Song „The World Might Fall Over“ von MonoMono, einer nigerianischen Band aus den 1970er Jahren, die Ankunft Samuels im Frankfurter Bahnhofsviertel. Jüdische Folkmusik gibt es natürlich auch, etwa von Benzion Witler.
„Mein Anliegen mit ‚Die Zweiflers‘ ist es, eine Familiengeschichte zu erzählen, die einen authentischen Einblick in diesen Mikrokosmos gibt und die Ambivalenz des jüdischen Selbstverständnisses in Deutschland auf tragisch humoristische Weise verhandelt. Und sich trotzdem nicht herausnimmt, exemplarisch zu sein und irgendjemanden oder irgendwas zu repräsentieren. Der fromme Wunsch ist, nicht auf ein kulturelles Stereotyp reduziert zu werden.“ (David Hadda)
Die zentrale Liebesgeschichte ist ebenfalls multikulturell und mit der Leidenschaft fürs Essen verbunden. Als Samuel sich am Abend mit seiner alten Freundesclique trifft, landen sie in einem Szenerestaurant mit moderner Küche, betrieben unter anderem von Saba (Saffron Coomber), der Tochter einer weißen Mutter aus Großbritannien und eines schwarzen, aus der Karibik stammenden Vaters. Saba und Samuel (oder auch Shmuel, Sam oder Sammy) erleben den Rausch des Verliebtseins und erwarten schon bald ein gemeinsames Kind, was freilich einige weit reichende Entscheidungen erfordert, vor allem zur Frage, ob der Junge beschnitten werden soll oder nicht. Samuel ist hin und her gerissen zwischen seiner nicht-jüdischen, skeptischen Freundin und den eigenen Familientraditionen. Für Saba, der zudem das Angebot vorliegt, ein Restaurant in Japan zu übernehmen, gilt Ähnliches. Das Auf und Ab ihrer Liebe und die Auseinandersetzung mit ihren unterschiedlichen Identitäten sind der Kern und Motor des Dramas. Damit greift die Serie spielerisch und akzentuiert aktuelle Debatten über Rassismus, Kolonialismus und Identität auf. Auch bemühen sich die Regisseurinnen Anja Marquardt und Clara Zoe My-Linh von Arnim um einen zeitgemäßen, urbanen Look, in dem die temperamentvollen Treffen von Samuels bunter Freundesclique nicht allzu gekünstelt wirken. Es wird getrunken, gekokst und viel palavert – und natürlich gegessen. Dabei fallen dann Sätze wie dieser hier: „Du bist wirklich das größte Klischee, das ich kenne. Weißt du, wegen dir haben sie Auschwitz erfunden.“
Wie Saba und Samuel mit der Familie, mit den Freunden und sich selbst um ihre gemeinsame Zukunft ringen, das ist von großem Ernst und großer Komik zugleich. „Willkommen in der verrückten Familie. Ich entschuldige mich im Voraus“, sagt die aus Israel heimgekehrte Dana trocken zur Begrüßung zu Saba. Insbesondere die dominante Mimi, die von Sunnyi Melles mit Verve als garstiges, aber auch tragikomisches Mutter- und Schwiegermutter-Ungeheuer gespielt wird, läuft zur Hochform auf. Natürlich wird die schwangere Saba mit einem großen Essen herzlich in die Familie aufgenommen. Geradezu absurd sind allerdings die überkandidelten Verrenkungen, mit denen Mimi Saba zum Konvertieren zum Judentum bewegen möchte und sogar vor dem Rabbi tolle Theorien ausbreitet. „Deine Mama ist nämlich eine jüdische Piraten-Prinzessin aus dem Taka-Tuka-Land“, erklärt Saba später ironisch ihrem Baby. Auch sonst ist viel los bei den Zweiflers: Mimis Mann Jackie Horovitz (Mark Ivanir), ein Psychotherapeut, geht mit Patientin Lydia (Nora Waldstätten) fremd. Dana floh nicht ohne Grund nach Israel. Und Symcha gerät durch von Siggi lancierte Presseberichte immer stärker unter Druck. In dem ausgezeichneten Cast bleibt nur Ute Lemper, die allerdings als Tammi Zweifler auch erst in der fünften Episode auftaucht, ein wenig blass.
Bei all dem mangelt es nicht an einer differenzierten Erzählung darüber, wie der Holocaust das Leben jüdischer Familien über Generationen bis heute beschäftigt und beeinflusst, wie Traumata und Erinnerungen nachwirken, wie sich Kinder auch überfordert fühlen und wie die verschiedenen Opfer-Identitäten gleichsam in Konkurrenz miteinander treten. Saba und Samuel liefern sich bereits in der ersten Folge einen irren verbalen Wettstreit, ob Schwarze oder Juden die größeren Opfer in der Geschichte waren. Nicht ohne jüdischen Witz und doch ernsthaft, authentisch und glaubwürdig reden die Generationen mit- und untereinander über die eigene Geschichte und Identität, über den Holocaust und das Erbe damit. Dabei klingen viele Aspekte an, etwa im Monolog von Jackie Horovitz am Grab seiner aus der Sowjetunion stammenden Eltern. Beeindruckend würdevoll, zärtlich und zerbrechlich spielt insbesondere die wunderbare Eleanor Reissa die Großmutter Lilka, die bis heute keinem Deutschen über den Weg traut und ihre zahlreichen Medikamente lieber aus Israel einfliegen lässt. Die innige Liebe zwischen der kranken Großmutter und ihrem Enkel Samuel zählt zu den berührendsten Geschichten der Serie. Gleichzeitig fühlt sich Lilka vom Hausmädchen Dorota (Malina Ebert) permanent verfolgt und verwandelt sich dann in eine unfreundliche Schreckschraube.
Die auf andere Weise unglückliche Mimi, dominierende Vertreterin der Kinder-Generation der Holocaust-Überlebenden, wirkt dagegen in ihrem Jüdisch-Sein verbissen und wittert auch schnell Antisemitismus. Damit nervt sie dann wiederum die eigenen Kinder. Bezeichnend der einzige Rückblick, den sich Showrunner David Hadda erlaubt und der zu Beginn der vierten Episode von Anja Marquardt inszeniert wurde: Da schleppt Mimi ihre drei Kinder in „Schindlers Liste“. Man sieht keine Kinobilder, nur dass Samuel bei einem Schuss ängstlich zusammenzuckt. Nach dem Ende des Films springt die Mutter auf, schimpft auf den „Hollywood-Kitsch“ und klärt ihre Kinder darüber auf, dass die Vernichtung der Juden in Filmen gar nicht darstellbar sei und in Wahrheit alles viel schlimmer gewesen sei. „Ihr wärt alle in die Gaskammer gekommen“, ruft sie entschieden aus und verstört ihre Kinder nun erst recht – in der besten Absicht ihrer Generation, dem unermesslichen Leid der eigenen Eltern gerecht zu werden.
Was jedenfalls völlig fehlt, ist falsche Zurückhaltung. Hier wird Tacheles geredet, um es auf Jiddisch zu sagen, und zwar in Bild und Ton und in einer Inszenierung, die von der zur Routine erstarrten Erinnerungskultur in etwa so weit entfernt ist wie Russland von der Demokratie und Donald Trump von Bescheidenheit. Wie man in der Fiktion von antisemitischen Stereotypen und jüdischer Identität mit grimmigem und furchtlosem Humor erzählen kann, zeigt sich in der zweiten Episode, in der Leon erstmals als Künstler ins Licht der Öffentlichkeit tritt. In dieser Ausstellung prangert außerdem eine andere Künstlerin in einer zweifelhaften Installation das Schreddern männlicher Küken an. Darüber hat sie den Schriftzug „It’s Shoah Time“ gesetzt, als befinde sich hier das Eingangstor zu einem Vernichtungslager der Nazis. Die Künstlerin tritt nicht in Erscheinung, dafür der Kurator, der sich um Kopf und Kragen redet („Gerade als Juden müssen Sie doch verstehen…“) und von Symcha eine Ohrfeige fängt. Zumindest bei Mimi ist das Entsetzen über Leons Gemälde allerdings ähnlich groß. Denn ihr Sohn hat seine Familie gemalt – nackt und inmitten einer Art Orgie, in der seine Mutter Würste ausscheidet und sein Vater mit einem Schwein kopuliert. Bevor die Sache während der Vernissage völlig eskaliert, befiehlt Samuel: „Alle Juden raus.“
Während die Dreharbeiten zur Serie im Herbst 2023 noch im Gange waren, geschah das Massaker am 7. Oktober, bei dem die islamistische Terrororganisation Hamas aus dem Gaza-Streifen in Israel einfiel, mehr als 1100 Menschen ermordete und 240 Geiseln nahm. Mit der Lage im Nahen Osten beschäftigt sich die Serie nicht, und auch das Verhältnis zu Palästinensern und Muslimen hierzulande bleibt ausgeklammert. Die Serie hat als unterhaltsamer, authentischer Zugang zu jüdischem Leben in Deutschland eine zeitlose Relevanz, die allerdings angesichts der enorm wachsenden Zahl antisemitischer Angriffe aktuell leider besonders groß ist. Ein Statement zu all dem liefern „Die Zweiflers“ nicht. Aber in Symcha Zweiflers Büro hängen zwei Fotos: Das eine zeigt den von einem jüdischen Rechtsextremisten ermordeten israelischen Präsidenten Jitzchak Rabin, das andere zwei israelische Düsenjets, die über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau fliegen. Dies geschah tatsächlich am 4. September 2003 auf Einladung der polnischen Luftwaffe – in Erinnerung an die Millionen Toten und als Versprechen, das jüdische Volk und seine Nation Israel in Zukunft zu beschützen. Symcha Zweifler blickt stumm auf die Fotos, die für ihn als Überlebenden der Shoah große symbolische Bedeutung haben. In der fünften Episode wird er Samuel erklären: „Ein wehrloser Jude ist ein toter Jude.“