Sparsame Dialoge, langsame Kamerafahrten, verschachtelte Zeitebenen, nur ein Mindestmaß an Informationen – Michael Dreher macht es dem Zuschauer in seinem Kino-Debütfilm „Die zwei Leben des Daniel Shore“ nicht einfach. Ein Film, der einem volle Konzentration abverlangt, der fordert, zuweilen – ob der Zeitsprünge – auch überfordert. Das ist mutig für einen Erstling, aber der Mut des Autors und Regisseurs Dreher wird durchaus belohnt. Dieses kafkaesk anmutende Verwirrspiel voll skurriler Geschehnisse und Charaktere in einem Mietshaus ist ein sowohl spannendes als auch atmosphärisch dichtes Psychogramm eines gewöhnlichen Menschen, dessen Leben durch ein Verbrechen aus dem Fugen gerät.
Zwei Leben – das sind bei Daniel Shore ein zeitlich frühes und eines in der Gegenwart. Der Student muss in Tanger tatenlos den Mord an dem kleinen Sohn seiner marokkanischen Geliebten miterleben. Zurück in Deutschland wird er von Schuldgefühlen geplagt und zieht in das alte Mietshaus seiner Großmutter. In den dunklen, geheimnisvoll anmutenden Gängen begegnet er einer Reihe skurril-verschrobener Mitbewohner – Hausverwalterin Kowalski (Judith Engel), der jungen Sängerin Elli (wie immer stark: Katharina Schüttler) und dem Bankangestellten Feige (Matthias Matschke). Mehr und mehr verschwimmen in Daniels Leben Bilder aus der Vergangenheit und der Gegenwart, Realität und Fiktion vermengen sich. Und plötzlich erhält er noch einmal die Chance, das Leben eines kleinen Jungen zu retten…
Es sind intensive, mal kühle, mal klaustrophobische Bilder, meist von großer Strahlkraft (Kamera: Ian Blumers), mit denen Michael Dreher in „Die zwei Leben des Damiel Shore“ arbeitet. Sie schaffen die beklemmende Atmosphäre. Wie häufig bei Erstlingsfilmen sind auch hier große Vorbilder erkennbar: Roman Polanskis „Der Mieter“ oder Alfred Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“. So wie dort James Stewart beobachtet auch Daniel Shore, mit sparsamer Mimik eindrucksvoll gespielt von Nikolai Kinski (Sohn von Klaus Kinski), das Geschehen im Haus von seiner Wohnung aus, mal durch den Spion, mal durch den Briefkastenschlitz. Durch diese Perspektive erzeugt Dreher Spannung (wenngleich sie im Lauf des Films nachlässt) und die Charaktere wirken dadurch noch ein weniger skurriler. Ein eigenwilliger Kino-Erstling, bestens aufgehoben in der „Debüt im Ersten“-Reihe der ARD. (Text-Stand: 21.5.2012)