Zum Jahresbeginn 2020 schmieden Carolin Mellau (Natalia Wörner) und ihr Ehemann Stefan (Marcus Mittermeier) Zukunftspläne. Sie, Intensivmedizinerin in der Klinik Konstanz, hat die Kündigung schon eingereicht, er, Oboist in einem Kammerspielorchester, freut sich auf die bevorstehende Tournee, und beide wollen künftig noch mehr füreinander und für die Familie, für ihre Kinder Tim (Jona Eisenblätter) und Luzy (Lilly Barshy), da sein. Doch dann kommt alles ganz anders. Das neuartige Virus, das da in Asien unterwegs ist, kennt keine Grenzen. Noch geht alles seinen gewohnten Gang am Bodensee – Fasnacht, Schule, Musikunterricht, und diese seltsame Krankheit wird von einigen noch belächelt als „neue Grippe“. Doch in der Klinik ist es mit der Ruhe längst vorbei, spätestens als Carolin ihre Prognosen auftischt: Es fehlen über 100 Beatmungsgeräte, es mangelt an Schutzausrüstung und Fachpersonal. Dann der erste Corona-Patient. Von da an geht es Schlag auf Schlag: Besuchsverbote, Kontakt-Beschränkungen, die Grenze wird dicht gemacht. Luzy kann ihren Schweizer Freund nicht mehr sehen, und Carolins Besuche bei ihrer Mutter (Elisabeth Schwarz) im Pflegeheim müssen durch Skypen ersetzt werden. In der Klinik arbeiten alle bis zum Anschlag, die Nerven liegen blank. Da muss sich Carolin schwer zusammenreißen, als sich ihre Nachbarn, ihr Optiker (Klaus Pohl) und seine Frau (Lena Stolze), als Corona-Leugner outen.
„Die Welt steht still“ erzählt von der ersten Welle der Corona-Pandemie aus der Perspektive einer Intensivmedizinerin, die an vorderster Front den Kampf mit dem Virus aufnehmen muss. Am Ende infiziert sie sich selbst, was im Film bereits zu Beginn angedeutet wird. Das aber ist nur ein Nebeneffekt und bildet nicht das narrative Zentrum dieses ZDF-Fernsehfilms. Erzählt wird von der aufopferungsvollen Arbeit einer Heldin des Alltags, einer Halbgöttin in Weiß (hier passt der Begriff). Carolin Mehlau ist aber zugleich auch eine typische Heldinnen-Figur, wie sie in gesellschaftlich relevanten Fernsehfilmen zum Einsatz kommt. Ausgerechnet ihre humanitäre Ader ist es, die ihr das Virus beschert. Und so gibt ihr die doppelt Grimme-Preis-gekrönte Autorin Dorothee Schön („Frau Böhm sagt Nein“ / „Der letzte schöne Tag“) einen Hauch von Tragik mit auf die Reise zwischen Notaufnahme, Triage-Debatten und dem Hafen der Familie, die fortan von ihrem arbeitslosen Solokünstler-Gatten gemanagt wird und in den sie nach Dienstschluss immer abgekämpfter einfährt. Dass sich die Hauptfigur selber ansteckt, ist ein Hinweis auf das hohe Gesundheitsrisiko des medizinischen Personals im Frühjahr 2020, und sorgt erfreulicherweise nicht für eine überdeutliche Dramatisierung der Erzählung. Im Zentrum steht vielmehr die Chronologie der schrecklichen, kurz zuvor noch unvorstellbaren Ereignisse und der radikalen Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen. Diese Chronologie wird auch auf der Bildebene (Regie: Anno Saul) weitgehend objektiv und sachlich umgesetzt.
„Die Welt steht still“ ist ein fiktionales Zeitdokument. Bereits im März 2020 parallel zum Pandemieverlauf entwickelt, wurde der Film genau ein Jahr später im Lockdown unter strengen Hygienemaßnahmen gedreht. Die gesellschaftliche Ausnahmesituation wird heruntergebrochen auf wenige Figuren. Dank einer kompakten Narration gelingt es Autorin Schön eine Unzahl an Fakten und Phänomenen rund um das Virus, die Öffentlichkeit sowie das soziale und private Miteinander in die Geschichte, ja manchmal nur in eine Situation, ein Bild, einen Dialog, einfließen zu lassen. Das reicht vom verschobenen „James Bond“-Film, von der tödlichen Formel des exponentiellen Wachstums, von der Masken- und Desinfektionsmittelknappheit, vom gehamsterten Klopapier über die Horrormeldungen aus Bergamo, über das Bild vom Papst, allein auf dem Petersplatz, über Verschwörungstheorien um Bill Gates oder über das dumme Wort vom deutschen „Gesundheitsfaschismus“ bis hin zum Sterben in Einsamkeit, zum Überbringen von Todesnachrichten, zum mutterseelenallein sein. Das Drehbuch ist aber mehr als nur eine Fleißarbeit in Sachen Recherche. Das kluge Kurzschließen von Motiven und die geschickte Schichtung von Informationen ergeben eine äußerst dichte Dramaturgie. So wird beispielsweise Merkels Ansprache an die Nation von Reaktionen eines Verschwörungstheoretikers begleitet. Und das Sinnbild der Umarmung wird mehrfach mit Bedeutung aufgeladen. Auch der Wert von Familie und Gemeinschaft (besonders wenn sie fehlt) wird immer wieder stimmungsvoll in Szene gesetzt. Die erste Welle der Corona-Pandemie bleibt aber vor allem eine Verlust- und Defiziterfahrung.
„Warum ein Spielfilm und kein Dokumentarfilm?“, wird sich manch einer fragen. Fiktionale Aufarbeitungen realer Ereignisse erreichen mehr Zuschauer und sie ermöglichen mehr Raum für Emotionen: die üblichen sind in diesem Fall nicht die stärksten Argumente. „Die Welt steht still“ zeichnet nicht den Corona-Diskurs nach, wissenschaftliche Fakten bleiben weitgehend außen vor. Die Geschichte geht von der Erfahrungswelt der Hauptfiguren aus. Ein solches Erleben von Alltag lässt sich besser unmittelbar im Spiel darstellen als vermittelt über Sprechende Köpfe, die sich erinnern oder in ihren Videotagebüchern blättern. Außerdem ist die bereits erwähnte Komprimierung im Spielfilm besser zu bewerkstelligen als in Doku- Formaten und für den Zuschauer leichter verständlich. Geschichten können, wie Schöns Drehbuch zeigt, mit Assoziationen arbeiten und können in 90 Minuten durch eine clevere Konstruktion sehr Vieles anschneiden oder ansprechen. Das Zwingen realer Fakten in ein ästhetisches Werk ist allerdings immer auch ein Drahtseilakt, bei dem nicht nur gefühlt schnell die Dramaturgie die Oberhand gewinnen kann. Filme, die übermäßig viele Fakten anhäufen, wirken oft didaktisch. In „Die Welt steht still“ verflüchtigt sich dieser Eindruck immer wieder durch die meist kurzen und doch stimmungsvollen Szenen; und die vortreffliche Besetzung trägt das Übrige dazu bei, dass sich Leben und Erleben in solchen Momenten spiegeln.
Der Film mag dem medizinischen Personal ein kleines Denkmal setzen, darin ist er ein Film gegen das Vergessen. Aber nicht nur darin: Wir alle vergessen schnell, sind überdies Verdrängungskünstler. Dorothee Schön und Anno Saul rufen uns noch einmal diese erste Welle der Pandemie ins Gedächtnis. Und die Schauspieler, allen voran Natalia Wörner, lassen es uns noch einmal spüren, das Unwissen, die Zweifel, die Überforderung, die große Verunsicherung, die in den ersten Monaten des vergangenen Jahres wie eine schwere Dunstglocke nicht nur über dem Bodensee lag. Damit liefert die Geschichte auch ein universales Paradigma menschlichen Verhaltens. Der Film könnte die Zuschauer*innen noch einmal an die von vielen erhofften möglichen Corona-Effekte erinnern: sich neu sortieren, nicht nur, was die Pandemie angeht, Schwerpunkte im Leben anders setzen, Konsumismus und das kopflose Weiter so hinterfragen. Bleibt für diesen mehr als ehrenwerten Film zu hoffen, dass der Corona-Stachel nicht zu tief sitzt. Der Wunsch, alles wieder durch die rosarote Brille zu sehen, scheint aktuell groß zu sein. Jeder will, dass alles wieder so wird, wie es vor der Pandemie war. Umso wichtiger ist dieser Film, der Dorothee Schön vielleicht keinen Grimme-Preis bescheren wird, der aber jetzt bereits TV-Geschichte geschrieben hat.