Eine Frau begleitet ein älteres Paar auf eine Jagdhütte. Als die beiden von einem Ausflug ins Dorf nicht zurückkehren, begibt sie sich zu Fuß auf die Suche und stößt mitten auf dem Weg auf eine unsichtbare Wand, die sie offenbar einschließt in der prächtigen Berg-Landschaft. An einer anderen Stelle sieht sie einen älteren Mann an einem Brunnen – das Wasser fließt, doch der Mann steht vornübergebeugt wie eingefroren. Ebenso eine alte Frau, die auf einer Bank vor einer Hütte sitzt. Beide sind unerreichbar, befinden sich auf der anderen Seite der Wand, von wo aus kein Geräusch herüber dringt und wo die Zeit offenbar stehen geblieben ist.
Ein fantastisches, faszinierendes Szenario, das die österreichische Schriftstellerin Marlen Haushofer bereits 1963 in ihrem Roman „Die Wand“ entworfen hatte. Und in der die von allen anderen Menschen abgeschnittene Frau als Ich-Erzählerin Bericht erstattet. Julian Roman Pölsler bewahrt die literarische Ästhetik in seiner Verfilmung. Die tagebuchartigen Betrachtungen, weniger Protokoll äußerer Geschehnisse als innere Einkehr und Reflexion, tragen den Film aus dem Off ebenso wie die Bilder. Gesprochen werden sie von Martina Gedeck, der ein beispielloses Solo beschieden ist, die aber vor der Kamera kaum einen Satz zu sagen hat. Das existenzialistische Drama erzählt von der Sinnsuche eines Individuums, von seinem Verhältnis zur Umwelt, vom Zyklus des Lebens und vom Sterben. Die Wand ist eine Metapher für die Begrenzung jedes Einzelnen, der Film ein philosophischer Exkurs.
Foto: BR / Coop99 / Starhaus
Landschaft und Umgebung werden in den verschiedenen Jahreszeiten bildgewaltig in Szene gesetzt. Die Natur ist von überwältigender Schönheit, aber auch bedrohlich und gewaltsam. Gleich acht Kameraleute werden im Abspann erwähnt, ihre Arbeit wird allerdings in Privaträumen nicht annähernd so beeindrucken können wie im Kinosaal. Ähnliches gilt für den Ton, der viel zur ganz eigenen Atmosphäre des Films beiträgt. Wunderbar die Stille des herrlich funkelnden Sternenhimmels oder der Lärm des grellen „Schneelichts“. Zumindest sollte man daheim die Lampen ausknipsen und um absolute Ruhe bitten.
Die naturalistischen, teilweise auch märchenhaft verfremdeten Bilder korrespondieren mit der Stimmungslage der Protagonistin. Die Geschichte hat allerdings keinen richtigen Anfang und kein Ende, und zwischendurch geschieht auch nicht allzu viel. Die Frau bleibt nicht nur ohne Namen, sondern auch ohne Biografie. Wer sie ist, woher sie kam, auf was sie nun verzichten muss – die Figur bleibt rätselhaft wie die Wand selbst. Dieser Reiz des Ungewissen sorgt für eine gewisse Spannung, eine magische Grundstimmung. Wir erleben die Protagonistin als zunehmend geschickte Bäuerin und Jägerin. Sie emanzipiert sich, könnte man sagen, wird selbstständig, erobert ihre neue, durchaus große Welt. Zu ihrem wichtigsten Gefährten wird Luchs, der Hund. Eine trächtige Kuh, zwei Katzen und ein weißer Rabe als sporadischer Gast gehören ebenfalls zum tierischen „Ensemble“. Im Zusammenleben mit den Tieren, im Gefühl, eins zu werden mit der Umwelt, überwindet die Frau zeitweise ihre Ängste und ihre Einsamkeit. Dabei kommt etwas Wärme in die ansonsten eher depressive Robinsonade.
Denn über das ernste Gesicht der Gedeck huscht nur selten ein Lächeln, und die etwas altbackenen, schwermütigen Texte sind auch gewöhnungsbedürftig. „Der Wind fiel kalt von den Felsen herab. Aber ich war kälter als der Wind und fror nicht“, heißt es an einer Stelle. Als Zuschauer friert man häufig schon. Die Frau, eingeschlossen wie unter einer riesigen Käseglocke, kreist zwar nicht nur um ihr eigenes Ich. Und die Zivilisationskritik der Roman-Autorin mag vor 50 Jahren fortschrittlich gewesen sein. Aber heute schmeckt die diffuse Selbst-Anklage der Protagonistin über „den falschen Weg“ des Menschen und die bisweilen idealisierende Beschreibung der Natur etwas abgestanden.
Dennoch trifft dieser entschleunigte, bildstarke Film in der heutigen Zeit, in der manche gerne in eine einsame Berg-Welt ohne Mobilfunk und Internet fliehen, sicher auch ein modernes Lebensgefühl. Über den ersten Sommer auf der Almhütte, zu ihren Füßen die ganze herrliche Landschaft, schreibt die namenlose Frau: „Zum ersten Mal in meinem Leben war ich besänftigt, nicht zufrieden oder glücklich, aber besänftigt. Es war, als hätte eine große Hand die Uhr in meinem Kopf still stehen lassen.“ (Text-Stand: 11.9.2014)