Eine Frau steigt über den Balkon in ein Zimmer ein, findet einen gefesselten Mann auf dem Boden liegen, ein kurzer Dialog, dann streift sie einen Boxhandschuh über und schlägt zu. So holt man die Zuschauer rein: Erst kracht es, dann erfährt man langsam, warum es gekracht hat. So folgt die Austria-Komödie „Die Unschuldsvermutung“ einem Trend, auf man derzeit (beinahe schon zu) häufig in Filmen setzt. Eine dramatische Szene aus dem zweiten Teil, dann wird als Rückblende die Geschichte dorthin erzählt und von da aus das Rad weiter gedreht. Nun, formal also nicht sonderlich originell wie Michael Sturminger hier zu Werke geht, doch das Thema und die Story haben es in sich in dieser unterhaltsamen Komödie mit satirischen Spitzen und kleinen, feinen Beobachtungen des Innenlebens des Kulturbetriebs.
Der Autor und Regisseur Michael Sturminger kennt sich aus in diesem Metier. Er inszenierte bereits an der Wiener Staatsoper sowie den Salzburger Festspielen (2021 macht er den „Jedermann“ mit Lars Eidinger) – Opern, Operetten, Theaterstücke. Und er schreibt und dreht Filme, für „Hurensohn“ (2004) wurde er mit dem Max-Ophüls-Preis für die beste Regie ausgezeichnet, für seine „Casanova Variations“ erhielt er für das beste Buch eine Romy.
Apropos Casanova. Dieser Marius Atterson (Ulrich Tukur) ist ein moderner Casanova – das aber in Zeiten von MeToo und höherer Sensibilisierung im täglichen Kulturbetrieb. In Salzburg steht die Neuinszenierung von Mozarts „Don Giovanni“ an, die Endproben laufen, da flippt Regisseur Roth (kleine Rolle für Simon Schwarz, der es hier so richtig krachen lassen darf) aus und kommt in eine psychiatrische Klinik. Wer soll nun inszenieren? Die Wahl von Intendant Winterblum (August Zirner) und Festspielpräsidentin Gebetsroither (Michou Friesz) fällt auf Beate Zierau (Catrin Striebeck), eine zu Recht als schwierig geltende Regisseurin, die sich in der Arbeit mit dem Ensemble als eine wahre Zicke erweist. Damit nicht genug: Sie war auch mal mit Marius Atterson, dem charismatischen Stardirigenten der Aufführung, verheiratet, der stets mit seiner betagten Mama (Christine Ostremayer) zu den Engagements reist. Doch aus Liebe wurde Hass. Und so treffen mit Marius und Beate die Elemente Feuer und Wasser in Salzburg aufeinander. Die Presse freut sich. Auch Journalistin Franziska Fink (Marie-Christine Friedrich) nimmt ihre Arbeit auf, mit dem Ziel Frauenverführer Atterson als MeToo-Täter zu entlarven. Zudem umgarnt der Maestro seine Agentin Ada Lubovsky (Daniela Golpashin) mit anzüglichen Bemerkungen und eindeutigen Angeboten. Und seine Meisterschülerin Karina Samus (Laura de Boer), die die Proben für ihn leitet, hat nicht nur eine amouröse Vergangenheit mit ihm, sondern erwartet auch noch ein Kind von ihm. Und so trifft Atterson nicht nur auf seine zornige Ex-Gattin, sondern mit Franziska, Ada und Karina auf drei junge Frauen, die sich gegen den sich selbstüberschätzenden und für unantastbar haltenden Stardirigenten verbünden und einen Plan schmieden, ihn öffentlich bloßzustellen.
Dunkle Wolken über der Salzburger Opernwelt. Es geht um Machtspiele, Eitelkeiten, Selbsttäuschung und Rache. Ein Mann und vier Frauen sitzen auf dem Festspielkarussell, das dreht sich immer schneller, einer soll runterfliegen. Sturmingers Komödie zeigt mit leicht ironischem Touch, wie es hinter den Kulissen des Opernbetriebs zugeht, mahnt die im Namen der Kreativität festzementierte Machtverteilung im Verhältnis der Geschlechter an und wählt für seine mal bissig-böse, mal unterhaltsame Dekonstruktion mit „Don Giovanni“ eine Oper um einem Verführer, um seine Hauptfigur, den Verführer Atterson, in der realen Welt zu zerpflücken. Und das gelingt Sturminger bestens. Schon die Einführung des Maestro ist wunderbar. Wenn Brigitte Hobmeier in einem herrlichen Kurzauftritt als fallengelassene Frau bei einer Signierstunde von Atterson auftaucht und ihm in aller Öffentlichkeit eine knallt, dann ist die Fallhöhe des Maestro schon vorgegeben.
„Selbstironie ist beim Schreiben einer Komödie sicher die wichtigste Voraussetzung, über wen kann man denn besser lachen, als über sich selbst. Selbstverständlich liegen hinter vielen Details aus dem Drehbuch Erfahrungen aus dem echten Theaterleben, doch war es mir ein Anliegen, den Film mit Leichtigkeit zu erzählen.“ (Michael Sturminger, Buch & Regie)
Die Rolle, an der ein Ulrich Tukur scheitern könnte, muss wohl erst noch geschrieben werden. Diesen liebestollen, die Zeichen der Zeit nicht erkennen wollenden Stardirigenten spielt er mit so viel Lust und Präzision, dass es eine wahre Freude ist. Tukur meistert den Spagat der Figur, sich gleichzeitig völlig unmöglich und trotzdem irgendwie noch sympathisch zu benehmen, bravourös. Und Tukur hat die Aura, einen berühmten Künstler zu spielen, ihm kauft man diese Rolle in jeder Sekunde ab. Catrin Striebeck gibt die temperamentvolle, überspannte Kultur-Zicke. Das Trio der erfolgreichen Frauensolidarität bilden Laura de Boer, Marie-Christine Friedrich und Daniela Golpashin. Und treffender kann man das so virtuos und entlarvend agierende Duo der Leitungsebene nicht darstellen als Michou Friesz und August Zirner. Nach außen korrekt, nach innen berechnend, tanzen die beiden um Künstler und Sponsoren herum, die Falschheit stets im Blick. Für Liebhaber klassischer Musik ist erwähnenswert, dass Filmkomponist Kyrre Kvam die gesamte Filmmusik aus Mozarts D-moll-Fantasie entwickelt hat, um sie mit der Ouvertüre des „Don Giovanni“ nicht in Konkurrenz treten zu lassen.
„Vorbild ist der unerreichbare Stil von Billy Wilder und Ernst Lubitsch, die ihre Theater- und Filmwelt auch zum Thema von Komödien gemacht haben“, sagt Michael Sturminger und ordnet mit dem Wort „unerreichbar“ seinen Film gut ein. Das gilt vor allem für das Tempo und die Präzision, da sind die Vorbilder Wilder und Lubitsch unschlagbar. Doch Sturmingers Komödie über einen Künstler auf dem Egotrip, der es gewohnt ist, sich zu nehmen, was er will, und nicht erkennt, dass sich die Zeiten geändert haben, ist ein sehenswerter Beitrag zur MeToo-Debatte – und das gänzlich ohne Zeigefinger. Dass er dazu höchst vergnüglich mit bekannten Klischees des Kulturbetriebs (gedreht wurde an allen Originalschauplätzen des Festspielhauses in Salzburg) zu spielen weiß, macht „Die Unschuldsvermutung“ zu einem echten Schmankerl, das Mundart-technisch durchaus auch für Nordlichter geeignet ist.