Die Toten von Marnow

Sascha Gersak, Schmidt-Schaller, Schmidt, Herzog. Zwei Seelenverwandte gegen alle

Foto: NDR / Degeto / Philipp Sichler
Foto Rainer Tittelbach

Zwei Morde an einem Tag, beide Opfer wurden mit einem präzisen Kehlschnitt getötet. Die Schweriner Kommissare Elling und Lona Mendt ahnen zwar, dass hier ein Serienmörder unterwegs sein könnte, haben aber noch keine Vorstellung davon, welche Kreise dieser Fall ziehen wird und in was für einen Schlammassel sie auch persönlich hineingeraten werden. „Die Toten von Marnow“ (NDR, Degeto / Polyphon) beginnt als Krimi, der sich bewusst viel Zeit für seine zwei Hauptcharaktere nimmt, um schließlich als Thriller zu enden, der auf ein dunkles Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte rekurriert. Der Fall schweißt die Ermittler zusammen. Dass sie aus der Geschichte unbeschadet herauskommen, dürfte trotz ihrer moralischen Verfehlungen und trotz des brisanten Themas der größte Wunsch des Zuschauers sein. Das ist auch Sascha Gersak und Petra Schmidt-Schaller zu verdanken. „Die Toten von Marnow“ ist in erster Linie ein sehr gelungener Genrefilm. Holger Karsten Schmidt bedient einmal mehr die Klaviatur von Krimi, Thriller und Drama perfekt. Und auch die Inszenierung von Andreas Herzog mit ihrem klugen Einsatz von Cinemascope, dem hitzigen Sommer-Look & dem grandiosen Score muss den Vergleich mit internationalen Serien nicht scheuen.

Zwei Morde an einem Tag, offenbar ein Täter, denn beide Opfer wurden mit einem präzisen Kehlschnitt getötet. Frank Elling (Sascha Gersak) und Lona Mendt (Petra Schmidt-Schaller) ahnen zwar, dass hier ein Serienmörder unterwegs sein könnte, haben aber noch keine Vorstellung davon, welche Kreise dieser Fall ziehen wird und in was für einen Schlammassel sie auch persönlich hineingeraten werden. Der treusorgende, völlig überschuldete Familienvater wird Bestechungsgeld annehmen und die attraktive, unnahbar wirkende Kollegin, die eine Affäre mit einem Untergebenen (Anton Rubtsov) beginnt, wird sich eines sexuellen Übergriffs ausgesetzt sehen. Ohne das Mordmotiv zu kennen, geraten beide zunehmend unter Druck. Das LKA in Gestalt eines kaltblütigen Ex-Stasi-Mitarbeiters (Jörg Schüttauf), ein Staatssekretär (Michael Mendl), eine westdeutsche Pharmafirma mit Flecken auf der weißen Weste, Opfer der skrupellosen DDR-Politik – mit all‘ denen bekommen es die Kommissare zu tun in diesen zwölf Hochsommertagen. Es wird weitere Leichen geben. Also ein Rachefeldzug? Es wird jedenfalls hitzig werden – auch für die Kommissare, die erkennen, dass sie nur gemeinsam „aus dieser Sache“ herauskommen werden. Sie rücken also zusammen – auch weil ihnen ihr Privatleben wenig Halt verspricht. In Marnow auf dem Campingplatz mietet sich Mendt mit ihrem Wohnmobil ein. Und auch Elling schaut dort immer öfter vorbei.

Die Toten von MarnowFoto: NDR / Degeto / Philipp Sichler
Dienstanweisung Sex. Lona (Petra Schmidt-Schaller) weiß um ihre Wirkung auf Männer. Mit Sören Jasper (Anton Rubtsov), einem Untergebenen, der mit am Marnow-Fall arbeitet, beginnt sie eine Affäre, bei der allein sie die Regeln bestimmt.

„Die Toten von Marnow“ beginnt als Krimi, der sich sehr viel Zeit für seine beiden Hauptcharaktere nimmt. Bei einem Vierteiler reicht es nicht, allein auf Whodunit und Spannung zu setzen. Autor Holger Karsten Schmidt hat aus Elling einen Mann gemacht, der seine Familie gern zufriedenstellt: der sich liebevoll um seine demente Mutter (Christine Schorn) kümmert, der seiner 18jährigen Tochter (Bianca Nawrath) einen Miniflitzer zum Abi schenkt und auch seiner Frau (Anna Schäfer) alle Wünsche erfüllen möchte. Doch auf die Gegenstromanlage im Pool könnte sie gut verzichten, nicht aber auf den neuen Schweriner OB-Kandidaten, mit dem sie seit einem halben Jahr eine leidenschaftliche Affäre hat. Dieser Sub-Plot entwickelt sich zu einem stimmigen Familiendrama – wodurch das Verhalten dieses Mannes motiviert wird, der trotz seines wuchtigen Äußeren, nah am Wasser gebaut ist und der einfach nur geliebt werden möchte. Während Elling sich durch die Gegenwart definiert, verortet Schmidt den biografischen Schwerpunkt von Lona Mendt in deren Vergangenheit. Dass sie unter einem Schicksalsschlag leidet, wird früh angedeutet, was ihr allerdings konkret auf der Seele lastet, erfährt der Zuschauer erst wenige Minute vor dem Ende des vierten Teils. Diese Frau versucht mit aller Macht, sich ihre Unabhängigkeit zu bewahren und Emotionen nicht zu nah an sich herankommen zu lassen. Während die äußeren Umstände früh gegenseitiges Vertrauen fordern, erkennen die Ermittler erst spät, dass jeder im anderen auch einen Seelenverwandten gefunden hat. So lässt sich beider Schmerz zumindest lindern.

Leichen pflastern die Programmflächen der TV-Primetime. Das gilt auch für „Die Toten von Marnow“ – wobei der Titel nicht nur auf die mit meuchelmordender Hand zu Tode Gekommenen verweist. Berücksichtigt man die sechs Stunde Sendezeit, liegt die Produktion eher unter der durchschnittlichen Mordrate herkömmlicher Krimis. Die Hintergründe der brutalen Tötungen bleiben in diesem Vierteiler lange Zeit im Dunkeln – auch für den Zuschauer, obwohl er einen Informationsvorsprung gegenüber den Hauptfiguren besitzt. Dass die Kommissare erst zu Beginn des dritten Teils – in der Sache des LKA-Ex-Stasi-Killers, den Jörg Schüttauf mit einer faszinierenden Unverfrorenheit verkörpert – so schlau sind wie die Zuschauer, die bereits in der allerersten Szene diesen ikonischen Bösewicht zu Gesicht bekommen, stört im Rahmen dieser Geschichte nicht. In anderen Krimis nervt es, wenn die Kommissare hinterherdackeln, hier dagegen verstärkt das Wissen um die Bösartigkeit dieses LKA-Manns noch die Sorge um das sympathische Duo. Die Identifikation und das Mitfiebern mit den Helden sind – trotz deren moralischer Verfehlungen – die emotionale Triebkraft des Films. Dass sie aus der Geschichte unbeschadet herauskommen, ist der größte Wunsch des Zuschauers, dicht gefolgt von der Bestrafung des Hauptdrahtziehers, der ungeschoren davonzukommen droht. Die „Lösung“ ganz am Ende ist ein typischer Genrefilm-Trick.

Die Toten von MarnowFoto: NDR / Degeto / Philipp Sichler
Faszinierend unverfroren bis ekelhaft brutal: Jörg Schüttauf als LKA-Ex-Stasi-Killer.

Holger Karsten Schmidt beherrscht die Genre-Klaviatur. Insbesondere das stimmige Zusammenspiel verschiedener Tonlagen ist sein Markenzeichen. Bei „Nord bei Nordwest“ oder „Harter Brocken“ treffen sich meist Krimi, Komödie, Thriller und bisweilen Drama. In Filmen, die auf realen Begebenheiten basieren wie „Gladbeck“, „Jenseits der Mauer“, „Mord in Eberswalde“ oder „Auslandseinsatz“ bleiben die komischen Zwischentöne zugunsten des ernsthaften Dramas ausgespart. Das gilt auch für „Die Toten von Marnow“. Kehlschnitte sind nicht witzig, Medikamententests mit tödlichen Folgen ebenso. Der Krimi mutiert zum Thriller, einem Genre, bei dem – anders als im Reihen-Krimi – jeder in Todesgefahr geraten kann, sogar die Ermittler. Auch wenn man die Gesetze des Genres kennt, ist es doch verblüffend, wie konsequent Schmidt einmal mehr alle Möglichkeiten der eingeführten Erzählelemente für den spannenden Verlauf der Handlung nutzt. Die Ehefrau ist eben nicht nur eine treulose Ehefrau – und die Gegenstromanlage des Pools ist mehr als nur ein Indikator für die jeweilige finanzielle Situation der Ellings. Die Basis, die die narrative Konstruktion trägt, ist im Falle dieses Vierteilers allerdings das Drama: Ohne die private Verortung und persönliche Verankerung würde selbst diese Geschichte, die auf ein dunkles Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte rekurriert, nicht funktionieren. Dazu gehört besonders auch die psychophysische Präsenz von Sascha Gersak als liebenswertes Kraftpaket mit Wohlstands-Wampe und Petra Schmidt-Schaller als ätherische Erscheinung mit Hang zum Element Wasser.

Es geht mitunter mächtig zur Sache in „Die Toten von Marnow“. Aber anders als in den fünfzehn mit ironischer Lakonie unterfütterten Filmen, die Autor Schmidt Hinnerk Schönemann auf den Leib geschrieben hat, verharren die Western-liken Baller- und Überlebenskampfszenen hier in blutigem Ernst. Sogar die schöne Lona macht sich die Hände schmutzig. Besonders auf der Zielgeraden der ersten beiden 90minütigen Teile knallt es kräftig. Im Kampf um seine Existenz wird Elling – eine SEK-Staffel im Nacken – zum Fassadenkletterer. Später stellt sich die Frage: Das Leben eines Mörders und Vergewaltigers retten und sich damit vielleicht selbst sein eigenes Leben zerstören – oder doch besser auf Nummer sicher gehen? Nicht nur der Druck, auch die Schuld der Kommissare wächst. Da wirkt es wenig überzeugend, wenn diese für deutsche Fernsehverhältnisse höchst ambivalenten Charaktere – so sympathisch sie einem auch sein mögen – die historischen Medikamententests moralisch entrüstet als „Menschenversuche“ bezeichnen und die DDR als mörderisches Versuchslabor titulieren. Das muss wohl so sein, um die Gegensätze und das Konfliktpotenzial zu schüren und um dieses extrem mörderische Treiben plausibel werden zu lassen. Die Narration jedenfalls funktioniert. Wer allerdings glaubt, das Thema spiele dafür eine überragende Rolle – der wird sich getäuscht sehen und sollte sich wohl lieber das ZDF-Politdrama „Kranke Geschäfte“ anschauen, das bereits vor einem halben Jahr zu sehen war. „Die Toten von Marnow“ ist und bleibt in erster Linie ein sehr gelungener Genrefilm.

Die Toten von MarnowFoto: NDR / Degeto / Philipp Sichler
Engelsgleich, aber unter Wasser. Lona Mendt (Petra Schmidt-Schaller) zieht es immer wieder auf den See. Elling hält es dagegen mit der weniger urwüchsigen Form des Wassers. Sein Pool, der optimiert, aber nicht benutzt wird, ist Statussymbol. Und er wird auch noch zur Waffe.

Der Höhepunkt in Sachen Action und Nervenkitzel sind zwei furiose Blutbad- und Baller-Sequenzen im vierten und letzten Teil. Regisseur Andreas Herzog („Unter Verdacht“) hat sie auch filmisch vorzüglich umgesetzt. Die eine spielt nachts, die andere am helllichten Tag (wie die meisten anderen Mordszenen). Das mag Zufall sein – die Tendenz, den Szenen in der flirrenden Sommerhitze voller sonnendurchfluteter Bilder atmosphärische Nachtaufnahmen entgegenzusetzen, ist dagegen evident. Was die Inszenierung angeht, braucht nach so unterschiedlichen deutschen Serien wie „Oktoberfest 1900“, „Das Geheimnis des Totenwaldes“, „Charité“, „Tod von Freunden“ oder „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ auch „Die Toten von Marnow“ den Vergleich mit internationalen Premium-Produktionen nicht zu scheuen. Neben der Sommerlook- und Stimmungs-sicheren Kamera von Philipp Sichler („Tatort – Im Schmerz geboren“) bietet der Vierteiler auch jede Menge unterschwellige Hörerlebnisse; der Score von Jazzpianist Martin Tingvall ist vielschichtig und sehr abwechslungsreich – die Bild-Emotionen sensibel herauskristallisierend, oft lautmalerisch, aber nie Stimmungen (Gefahr, Spannung, Melancholie) plump doppelnd. Klug verfahren wird auch mit dem Cinemascope. Es ist keine ästhetische Pose wie gelegentlich in anderen – gewollt coolen – deutschen TV-Movies, sondern das Format korrespondiert mit dem Erzählten: Egal, ob die mecklenburgische Landschaft, ob See, Wald oder die großzügigen Gartenanlagen, ob Ellings Bungalow, der Campingplatz, ob Friedhof oder Lonas Wohnmobil – der Mensch wird ständig mit seiner Umgebung kurzgeschlossen. Die Enge, das zwischenzeitliche In-der-Falle-Sitzen der Kommissare, wird gerade auch durch die Weitläufigkeit und die Naturschönheit der Bilder als Widerspruch betont. Die Freiheit bleibt Illusion, Elling und Lona stehen unter Druck, sind Gefangene. (Text-Stand: 22.2.2021)

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ARD Degeto, NDR

Mit Sascha Gersak, Petra Schmidt-Schaller, Anton Rubtsov, Jörg Schüttauf, Anne Schäfer, Lutz Blochberger, Michael Mendl, Christine Schorn, Judith Engel, Bianca Nawrath, Peter Kremer, Victoria Trauttmansdorff, Hans-Uwe Bauer

Kamera: Philipp Sichler

Szenenbild: Frank Godt, Olaf Schiefner

Kostüm: Stefanie Jauß

Schnitt: Gerald Slovak

Musik: Martin Tingvall

Redaktion: Thomas Schreiber, Donald Kraemer (beide NDR), Christoph Pellander, Claudia Grässel (beide Degeto)

Produktionsfirma: Polyphon

Produktion: Beatrice Kramm, Mark von Seydlitz

Drehbuch: Holger Karsten Schmidt

Regie: Andreas Herzog

Quote: (1): 5,71 Mio. Zuschauer (18,6% MA); (2): 4,38 Mio. (13,5% MA); (3): 4,46 Mio. (13,7% MA); Mediathek: für die acht Folgen gab es insgesamt 9,1 Mio. Abrufe (Stand: 18.3.)

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