Ein Mann reist auf eine Insel, begibt sich in die Katakomben seiner Psyche und erkennt, dass er sterben muss, wenn er weiterleben will. Ein Teenager leidet seit Jahren unter rätselhaften Symptomen und ist schließlich wie vom Erdboden verschluckt. Einem Arzt gelingt nach jahrelangen Experimenten ein medizinischer Durchbruch, der die Bezeichnung „Wunder“ verdient, wird aber trotzdem als Leiter der psychiatrischen Abteilung einer angesehenen Klink entlassen. All’ diese Ereignisse, die jeweils genug Stoff für eigenen Film böten, scheinen überhaupt nicht zueinander zu passen, und auch darin liegt der große Reiz dieser sechsteiligen Serie: Vier Folgen lang wirft das Drehbuch mit Puzzlestücken um sich, um sie in den letzten beiden Episoden wie durch Zauberei zu einem plausiblen Gesamtbild zusammenzufügen. Tatsächlich ist die Geschichte, deren Umsetzung den Vergleich mit Martin Scorseses Psychothriller „Shutter Island“ (2010) nicht scheuen muss, noch viel facettenreicher.
Foto: Prime Video / Britta Krehl
Schon die ersten vier Minuten imponieren gerade auch dank der Bildgestaltung durch eine enorme Dichte, und das ist bloß der Auftakt zu gut viereinhalb Stunden, die es in sich haben und ihrem Publikum nur wenige Momente der Entspannung gönnen: Viktor Larenz (Stephan Kampwirth), ein bekannter Berliner Psychiater, hat mit seiner 13jährigen Tochter einen Arzt aufgesucht und wundert sich, warum sie nicht aus dem Behandlungszimmer zurückkommt. Tatsächlich ist Josy (Helena Zengel, Titeldarstellerin aus „Systemsprenger“) ohne ein weiteres Lebenszeichen spurlos verschwunden. Die eigentliche Handlung setzt zwei Jahre später ein, als sich Larenz ins Ferienhaus der Familie auf eine Nordseeinsel zurückzieht, um zur Ruhe zu kommen. Die junge Schriftstellerin Anna Spiegel (Emma Bading) bittet ihn um Hilfe, sie leidet unter Schizophrenie und erzählt von Begebenheiten, die merkwürdige Parallelen zu Josys Schicksal aufweisen.
Das Drehbuch von Alexander M. Rümelin (Koautoren: Don Bohlinger, Christian Limmer) basiert auf dem 2006 erschienenen Debütroman von Sebastian Fitzek, ihm gebühren die Meriten für die Geschichte. Die Adaption ist allerdings vortrefflich, zumal die clevere Dramaturgie mehrfach mit Knüllern aufwartet, die es schlechterdings unmöglich machen, die Fortsetzung auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Mindestens ebenso imposant ist die optische Ebene: Die Arbeit von Kameramann Sten Mende ist preiswürdig. Allein die Aufnahmen auf der von einem Unwetter heimgesuchten Insel und die Bilder vom vernebelten Watt sind außerordentlich eindrucksvoll. Gleiches gilt für den Schnitt (Ramin Sabeti, Simon Blasi), zumal die Übergänge immer wieder raffiniert optische und akustische Motive aus der vorherigen Szene übernehmen. Die Musik (Johannes Kobilke) wiederum setzt Kontrapunkte, indem sie regelrecht zerfetzt, was doch eigentlich durch die Montage zusammenwachsen soll. Die geräuschvolle Tonspur passt ohnehin perfekt zum zunehmend zerrütteten Geisteszustand der Hauptfigur. Auch das Szenenbild (Jörg Baumgarten) hat großen Anteil an der im positiven Sinn eigenartigen Atmosphäre dieser Serie, die maßgeblich von Thor Freudenthal geprägt worden ist; die Regie hat er sich mit Ivan Sainz-Pardo geteilt.
Foto: Prime Video / Britta Krehl
Zu einer besonderen Produktion wird „Die Therapie“ jedoch durch die vielen überraschenden Einfälle, zu denen auch die liebevolle Integration der Titel in die Filmbilder zählen, sowie die ständigen Wendungen der Handlung, die sich virtuos durch Raum und Zeit bewegt und dem Publikum nicht das Denken abnimmt. Einige Details lassen sich erahnen, andere sind einfach nur verblüffend. Besonders reizvoll sind die psychologische Ebene und ihre optische Umsetzung. Äußerst ungewöhnlich ist beispielsweise die Idee, dass erst ein zerschossener Spiegel Larenz die Möglichkeit eröffnet, sich im Gewölbe seiner Psyche einem Kindheitstrauma zu stellen. Einige Nebenfiguren tauchen auf verschiedenen Ebenen auf; es ist ein hübscher kleiner Besetzungs-Coup, dass für diese kleinen Rollen bekannte Mitwirkende wie Martin Feifel oder Waldemar Kobus sowie die jüngst in der ARD-Serie „37 Sekunden“ beeindruckende Paula Kober gewonnen werden konnten.
Das Ensemble ist ohnehin ein weiteres Kapital der Serie. Stephan Kampwirth lotet die ganze abgründige Tiefe seiner Rolle aus. Die Funktion der zweiten männlichen Hauptfigur bleibt hingegen lange offen. Klar ist nur, dass Dr. Roth seinem Kollegen Larenz zu großem Dank verpflichtet ist: Der Psychiater hat verhindert, dass Roth seine Zulassung verliert. Trystan Pütter gelingt das Kunststück, diesen Arzt als miserablen Vater und ungenießbaren Vorgesetzten, aber dennoch sympathisch darzustellen. Roths Rolle wandelt sich mehr und mehr zum Privatdetektiv: Josy war die beste Freundin seiner Tochter (Eva Hirschburger), er will ihr Verschwinden unbedingt aufklären. Schlüsselfigur der Serie ist allerdings Anna Spiegel. Emma Bading verkörpert die junge Frau als Femme fatale wie aus einem klassischen Film noir, zumal Kostüm und Maske sie mit diversen knallroten Insignien versehen haben. Anna personifiziert das Mysterium, das dieser Serie zugrunde liegt, und weidet sich geradezu an Larenz’ Verwirrung, als sie andeutet, er sei womöglich bloß eine Figur aus einer ihrer Geschichten. Der vergebliche Versuch des Inselleuchtturms, Licht ins Dunkel zu bringen, ist ein treffendes Sinnbild für die Rätselhaftigkeit der Handlung. In einer ziemlich gruseligen Rückblende belehrt Larenz eine Patientin: „Nicht alles, was wir sehen, ist zwingend real.“