Die Sturmflut, die in der Nacht auf den 17. Februar 1962 über die Nordseeküste herein brach, kostete 315 Menschen das Leben. Es war die schlimmste Naturkatastrophe der Bundesrepublik. Mit bis zu 200 Stundenkilometern trieb es gewaltige Wassermassen in die Elbmündung. Die Deiche an Nordsee, Weser und Elbe brachen. Am schlimmsten betroffen war der Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, eine Elbinsel im Süden der Stadt. Die Flut überraschte die Bevölkerung im Schlaf. Dennoch konnten sich viele Menschen auf Dächer und Bäume retten. 6000 Eingeschlossene wurden bei Temperaturen um den Gefrierpunkt aus der Luft mit Lebensmitteln, Trinkwasser und Wolldecken versorgt. 18.000 wurden evakuiert, rund 60.000 waren vorübergehend obdachlos. Als „Retter“ von Hamburg gilt Helmut Schmidt. Der spätere Bundeskanzler begründete damals als unbürokratisch agierender Polizei- und Innensenator seinen Ruf als Krisenmanager der Nation.
Ein Ereignis wie die Hamburger Sturmflut, die gemeistert werden konnte durch den solidarischen Einsatz verschiedenster Einsatzkräfte, von der Bundeswehr bis zur NATO, war bislang filmisch nicht zu bewältigen. Es gab Dokumentationen zum Thema, die ARD zeigte auch ein sehr gelungenes Doku-Drama, doch fiktional wollte und konnte sich über 40 Jahre lang keiner an dem aufwändigen Stoff versuchen. Nach den Erfolgen der TV-Events „Der Tunnel“ oder „Das Wunder von Lengede“ hat sich TeamWorx, an das große historische Wasser-Drama gewagt. Nach den ansehnlichen Verkäufen ins Ausland und dem enormen Image-Gewinn für Sat 1, dem Sender, der bislang allein den Mut zu sechs- bis acht Millionen Euro schweren Großproduktionen hatte, engagierte sich erstmals RTL auf dem kostspieligen Feld der Fiction-History. Anders als zuletzt Sat 1 mit „Die Luftbrücke“ setzt der Kölner Sender auf Zeitgeschichte ohne politische Implikationen. Wie im klassischen Kino dominiert das Universale. Katastrophen, in denen Wasser die tragende Rolle spielt, wird es – wie der Tsunami im Indischen Ozean oder die Zerstörung von New Orleans auf tragische Weise gezeigt haben – immer geben. Auch die Liebe, die zwischen drei Menschen ihr kaum weniger tragisch empfundenes Spiel treibt, wird ein Thema sein, solange es Menschen gibt. Und so wird auf dem Hintergrund der Hamburger Sturmflut, konzentriert auf wenige Stunden, eine Geschichte erzählt, die Hollywood nicht sehr viel anders erzählt hätte.
„Die Sturmflut“ ist mit seinem Budget von acht Millionen Euro bislang nicht nur das teuerste deutsche TV-Movie der 50jährigen Fernsehgeschichte, es ist auch das handwerklich Beste und Spannendste, was RTL im Fiktion-Bereich je auf die Beine gestellt hat. Erzählt wird die Geschichte von Katja Döbbelin, einer Krankenschwester, die sich am Vorabend ihrer Hochzeit mit dem Oberarzt Markus Abt befindet. Vor allem für ihre Eltern ist es der ersehnte Aufstieg ihrer Familie in die sogenannten besseren Kreise. Doch unsichere Zeiten drohen nicht nur durch die näher rückende Sturmflut, sondern auch durch die unverhoffte Rückkehr ihrer großen Liebe Jürgen, dem Seefahrer, der über die Jahre seine Katja nicht vergessen konnte. Er will endlich wissen, weshalb sie ihm nie auf seine Briefe geantwortet hat. Beim Polterabend steht er plötzlich vor ihr. Benno Fürmann spielt jenen Jürgen mit traurigen Augen. Gegen diese Melancholie im Blick hat Jan Josef Liefers’ wohlhabender Weißkittel keine Chance.
Das spürt der Zuschauer schnell. So wie er sich ohnehin auf keinerlei Überraschungen einlassen muss. Alles kommt, wie es kommen muss. Und doch packt es ungleich mehr als das Geschehen des „Casablanca“-Verschnitts um die Berliner Luftbrücke. Ähnlich wie im Grimme-Preis-gekrönten Zweiteiler um das Grubenunglück von Lengede verbindet der RTL-Film ebenso stimmig und suggestiv das individuelle und das kollektive Schicksal, schließt physisches und psychisches Geschehen miteinander kurz und zündet so ein die Sinne fesselndes Feuerwerk, dem man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann. Die technische und künstlerische Perfektion sorgt sogar dafür, dass man sich gerne auf die bekannten Muster einlässt und einen am Filmende – anders als oft in amerikanischen Überwältigungsstreifen – kein schales Gefühl beschleicht. Eine der großen Stärken ist das bis in alle Details ausgefeilte Drehbuch von Holger Karsten Schmidt („Todesstrafe“), seit Jahren ein Mann für knallige existentielle Thriller. Die Dramaturgie ist ungewöhnlich dicht, die Geschichte wasserdicht. Gesellschaftliche Zwänge und Lebenslügen sind das Salz in der Beziehungssuppe. Und im Angesicht der Katastrophe ist die Stunde der Beichten gekommen.
Weil der Film dem heutigen Publikum etwas geben muss, wird das Jahr 1962 ausreichend mit Zeitgeist-Potenzial anno 2006 aufgerüstet. Da gähnen den Zuschauer nicht nur die Ausläufer der biederen 50er Jahre an, da gibt es vor allem in Frauenbildern deutlich den Hang zu mehr Emanzipation. Die Männer haben zwar das Sagen, aber die Frauen den größeren Durchblick. Und Kinder können – die Patchworkfamilie neueren Datums vorwegnehmend – sogar schon mal „zwei Papas“ haben. Sinnbildlich für die Aufbruchsstimmung auch schon in jenen Jahren steht der Rock & Roll, der damals im Hamburger Starclub seine Kreise zog. Berührt werden in diesem Film aber sicher auch all die, die noch den Krieg und die Nachkriegszeit miterlebt haben, die wissen, was es heißt, in einer Notgemeinschaft zu leben. Die Vielfalt der weltanschaulichen und emotionalen Bezüge, die der Film aufweist, ist es, die dem melodramatischen Urkonflikt viel von seiner Banalität nimmt. Den Rest besorgen die Schauspieler, große Mimen wie Christian Berkel, Götz George oder Natalia Wörner selbst in kleinen Rollen. Aber auch Ausstatter & Special-Effects-Leute haben gute Arbeit gemacht.
Herzstück der Katastrophenszenen des Films ist eine 140 Meter lange und 35 Meter breite Kulisse, die in ein 5000 Quadratmeter großes Becken in der Nähe von Essen gebaut und mit sechs Millionen Liter Wasser geflutet wurde. Die Wassertemperatur im Becken betrug höchstens 18 Grad. „Wenn man selbst die nur gespielten Gefühle und Ängste kaum erträgt und von der Kälte und der Kraft des Wassers vollkommen erschöpft ist, fragt man sich, wie es den Leuten damals ergangen sein muss“, so Nadja Uhl. Das Wasser im Februar 1962 hatte zwei bis drei Grad. Benno Fürmann glaubt, durch die Strapazen beim Dreh „wenigstens ansatzweise ein Gefühl dafür bekommen zu haben, was die Situation für die Menschen damals bedeutet haben muss.“ Der 70tägige Dreh – glaubt man den Beteiligten – lagen an der Grenze des Zumutbaren. Dem Regisseur Jorgo Papavassiliou, gebürtiger Grieche, fällt da ein Sprichwort aus seiner Heimat ein: „Schwere Geburten werden schöne Kinder.“