Die Inszenierung der Leiche lässt auf einen Ritualmord schließen. Das junge Mädchen ist im Wald auf ein Bett aus getrockneten Blüten der Eberesche gebettet, der Körper ist von Runen übersät. An einem Ast findet sich ein Büschel Wolfshaare, allerdings in Schulterhöhe. Die Indizienlage ist schließlich eindeutig: Bei dem Täter handelt es sich offenbar um einen Mann namens Vidar, auch bekannt als „Krieger des Waldes“. Eine umgehende Verhaftung erweist sich jedoch als schwierig, denn Vidar ist eine Gestalt aus der nordischen Mythologie. Der Sohn Odins hat unsterblichen Ruhm erlangt, als er den Fenriswolf besiegte und somit den Tod seines Vaters rächte; das Fell des Ungetüms diente ihm fortan als Rüstung.
Bei polizeilichen Ermittlungen sind diese Erkenntnisse zwar keine große Hilfe, aber natürlich liefern sie einen faszinierenden Hintergrund für eine Krimihandlung. Die zweite Besonderheit der sechsteiligen RTL-Serie „Die Quellen des Bösen – Jagd nach dem Runen-Mörder“ sind Ort und Zeit: Die Handlung trägt sich irgendwo in der ostdeutschen Provinz des Jahres 1993 zu. Die junge Kommissarin Ulrike Bandow (Henriette Confurius) bekommt Verstärkung durch einen recht reserviert empfangenen Kollegen aus Hamburg, der sich anscheinend mit Verbrechen dieser Art auskennt: Koray Larssen (Fahri Yardim) entwirft allein aufgrund der Tatortmerkmale ein plausibles Profil des Mörders, der seiner Ansicht nach nicht zum ersten Mal getötet hat. Tatsächlich weckt die Tat in Ulrike Erinnerungen an ein Ereignis aus ihrer Kindheit. Weil ihre Eltern das Erlebnis damals als Hirngespinst einer Dreizehnjährigen abgetan haben, hat sie das irgendwann auch geglaubt, aber nun kehrt es als Alptraum zurück: Als sie gemeinsam mit ihrer Freundin Christa nachts im Wald unterwegs war, ist sie einem Wolfsmann begegnet. Christa lebte damals in einem Kinderheim und berichtete von Missbraucherfahrungen, die ihr aber niemand geglaubt hat, weil sie sich gern durch erfundene Geschichten wichtig machte; dabei wiesen ihre Handgelenke Hämatome auf, die eindeutig von Fesseln stammten. Die gleichen Spuren finden sich an der Leiche des Mädchens aus dem Wald; offenbar ist der Täter zurückgekehrt. Oder ist es, wie ein Freund Christas versichert, der ebenfalls in dem Kinderheim war, „alles ganz anders“? Wenn das Duo das Rätsel lösen will, muss es sich auf die Welt der Mythen einlassen; doch es handelt sich um vermintes Gelände, und das durchaus im Wortsinn.
Die Bildgestaltung (Henner Besuch) ist vortrefflich, Henriette Confurius und Fahri Yardim funktionieren in ihrer Gegensätzlichkeit als Team ausgezeichnet. Das besondere Merkmal der Serie sind jedoch Zeit und Ort, zumal es Regisseur Stephan Rick gelingt, die spezielle Atmosphäre jener Jahre einzufangen, als viele Menschen mit dem Kopf bereits Richtung Westen unterwegs waren, während sich ihre Füße noch in der DDR befanden. Das mag als Sujet gerade für eine Krimiserie ebenso wenig neu sein wie die Ost/West-Kombination, aber im Unterschied zu anderen Produktionen dieser Art machen die sechs Folgen keine große Sache draus. Das gilt auch für Ausstattung und Kostümbild, die durch eine selbstverständliche Authentizität beeindrucken.
Inhaltlich fesselt „Die Quellen des Bösen“ natürlich wegen der Suche nach dem Mörder, zumal sich Ulrike buchstäblich dem Dämon ihrer Kindheit stellen muss. Für zusätzlichen Reiz sorgt eine zweifache emotionale Ebene: Das Drehbuch verzichtet auf die erwartbare Romanze zwischen Bandow und Larrsen; stattdessen verliebt sich die Kommissarin in eine attraktive Linguistin (Eva Meckbach), die bei der Entzifferung der Runen behilflich ist. Der Kollege aus Hamburg wiederum verfolgt eine eigene Agenda, die mit dem Fall nichts zu tun hat, die Handlung aber um eine interessante Fußnote bereichert: Er hat einen ostdeutschen Sohn, den er nun zum ersten Mal sieht. Die Vorgeschichte dieser Vaterschaft und die Hintergründe seiner verbotenen Beziehung zur Mutter (Sophie Pfennigstorf) des Jungen lassen Catharina Junk und Elke Schuch – die Drehbücher basieren auf dem Roman „Blütengrab“ von Ada Fink – lange offen. Außerdem machen die Gefühle Larssen erpressbar: Als eine BKA-Beamtin (Bettina Lamprecht) den Fall übernimmt und die Spuren nicht nur in die Vergangenheit, sondern zudem in höchste Kreise führen, soll der Kommissar die Ermittlungen bremsen.
Soundtrack: Tom Petty and The Heartbreakers („Learning To Fly“), Blind Melon („No Rain”), Dr. Alban („It’s My Life”), Udo Jürgens („Merci Cherie”), 4 Non Blondes („What’s Up”), Steve Miller Band („The Joker”), Chris Isaak („Dancing”), Fine Young Cannibals („You Drive Me Crazy”)
Auch dank der durch ein packendes Nacht-und-Nebel-Finale gekrönten Umsetzung von Rick, der nach seiner beachtlichen Martin-Suter-Verfilmung „Die dunkle Seite des Mondes“ (2016) mit Moritz Bleibtreu für den RBB einige gute „Polizeiruf“-Episoden gedreht hat, funktioniert die Serie als sehenswerte Mischung aus Krimi und Thriller, zumal die romantischen Momente für einen reizvollen Kontrast sorgen. Die gelegentlichen Horrorelemente verfehlen ihre Wirkung ebenfalls nicht, selbst wenn der Unhold weitaus eindrucksvoller ist, so lange es bei Andeutungen bleibt. Einige Nebendarsteller spielen im Vergleich zu Confurius und Yardim nur in der dritten Liga, aber Karsten Antonio Mielke gelingt ein unangenehm glaubwürdiges Porträt eines abstoßenden Rechtsradikalen. Mehr und mehr ins Zentrum der Handlung rückt zudem ein von Cloé Albertine Heinrich sehr intensiv verkörpertes Mädchen aus einer seltsam gestrig anmutenden Familie: Ingrid wandelt sich von einer glühenden Verehrerin Vidars zur Abtrünnigen und wird schließlich selbst zur Kriegerin des Waldes. (Text-Stand: 2.10.2023)