Wenn man mal selbst irgendwann in ein Seniorenheim ziehen muss, dann wäre eines, in dem die Leiterin so umsichtig, freundlich und gelassen wie Sina Kunz (Neda Rahmanian) durch die Gänge und Zimmer schlendert, erste Wahl. Oder eines, in dem eine Pflegerin wie Martina (Katja Studt) arbeitet, die sich trotz großer Belastung professionell und zugewandt um die Bewohnerinnen und Bewohner kümmert. Gerade ist die alte Frau Leszek gestorben, und Regisseur Martin Enlen benötigt in seiner ruhigen, konzentrierten Inszenierung nur wenige Szenen, um die Sorgfalt und Empathie der Pflegerin zu verdeutlichen. Den Tod – und den respektvollen Umgang damit – an den Anfang zu stellen, ist eine ausgesprochen kluge Entscheidung von Drehbuch-Autorin Julia C. Kaiser. Für die Dramaturgie ihrer Geschichte wählt sie die gegenteilige Entwicklung: Am Ende des HR-Fernsehfilms „Die Luft, die wir atmen“ steht nicht die Verdrängung von Sterben und Tod, aber am Morgen nach einer frostigen, sternenklaren Nacht haben sich viele kleine Neuanfänge ergeben.
Foto: HR / Bettina Müller
Man kann das irritierend, beinahe märchenhaft naiv finden, wie die Verhältnisse in diesem Seniorenheim dargestellt werden. In der Tat: Neben Martina und Sina Kunz scheinen nur noch der Auszubildende Kevin (Nicolas Matthews), Köchin Karin (Anna König) und eine weitere Pflegerin den Betrieb in einer nächtlichen Ausnahmesituation am Laufen zu halten. Die Ruhe, die sie dabei bewahren, ist nicht von dieser Welt. Wohlwollend könnte man dies als anerkennende Überhöhung der außergewöhnlichen Leistung von Pflegekräften interpretieren. Und dass die maskenfreie Darstellung angesichts der Corona-Pandemie unrealistisch wirkt, muss man dem Film auch nicht anlasten. Die Dreharbeiten begannen Ende Februar 2020, mussten dann während des ersten Lockdowns unterbrochen werden und wurden im Juni fortgesetzt und beendet. Die große Arbeits-Belastung wird immerhin angedeutet: Martina hat sich in einem Raum des Versorgungstrakts einen geheimen Zufluchtsort geschaffen, wo sie sich mit einem Schluck Schnaps und einer Zigarette eine Auszeit gönnt. Und am Morgen sind (fast) alle eingeschlafen. Die Köchin hat sich einfach auf einen Schrank gelegt.
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Ausdrucksstarke Bilder statt Dialoge, die den Notstand beklagen. Das passt zum Stil der Inszenierung, die von Beginn an mit leisem, leicht abgedrehtem Humor statt purem Realismus arbeitet. Das beginnt schon bei dem merkwürdigen Blitzeis-Warnhinweis im Radio, bei dem Hundebesitzer ermahnt werden, kein Wasser nach draußen zu stellen. Mehrere Hunde seien mit geschwollenen Zungen beim Tierarzt aufgetaucht, weil sie an dem gefrorenen Wasser im Napf kleben geblieben seien. Kurios auch: In dem Seniorenheim schlägt die Uhr an der Wand, wann sie will (was keinen zu stören scheint). Und Serkan Kaya hat eine hübsche Nebenrolle als eine Art Hausmeister, der nichts anderes tut, als Teppiche einzurollen oder auszulegen. Die unaufgeregte Atmosphäre mag unrealistisch sein, aber sie nimmt für den Film ein.
Obwohl das Personal alles andere als Beiwerk ist und auch das lebendige Treiben im Gemeinschaftsraum miteinbezogen wird, stehen einzelne Bewohner und ihre Geschichten im Zentrum. In jedem Zimmer eröffnen sich neue Aspekte des Lebens – und Abschiednehmens. Klaus Bronstein (Rainer Bock) fährt trotz Blitzeis-Warnung zum Seniorenheim im Taunus, um seine Lebenspartnerin Sylvia (Ruth Reinecke) mit einem üppigen Blumenstrauß wieder „zurückzuerobern“. Die erkrankte Sylvia ist ins Heim gezogen, weil sie von ihrem Partner nicht gepflegt werden will. Sie werde verkümmern, sagt sie. „Ich will dich nicht dabei haben.“ In einem anderen Zimmer liegt eine Frau im Sterben. Ihr Sohn Jürgen (Thomas Loibl) hält seit neun Stunden an ihrem Bett Wache, „weil ich auch mal das letzte Wort haben will“, wie er zu Sina Kunz sagt. Allerdings scheint er noch ganz unter der Fuchtel der verhassten Mutter zu stehen. Jürgens Schwester Lana (Barbara Philipp) fordert ihn vergeblich auf, mit ihr mitzukommen und sich somit endlich von der Mutter zu lösen.
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Die dritte Episode handelt von einer Tochter und ihrem dementen Vater: Martin Glemski (Gerd Wameling) war ein erfolgreicher Gitarrenbauer. Nun hat er Schwierigkeiten, seine Tochter Alisa (Bernadette Heerwagen) zu erkennen. Außerdem hält er störrisch an einer Realität fest, die nicht mehr existiert. Alisa, mit ihrer Lebensgefährtin und großen Liebe Sarah (Katharina Nesytowa) angereist, bringt das in handfeste finanzielle Not. Aber die Vollmacht fürs Bankkonto will ihr Vater nicht rausrücken. Außerdem: Kurz bevor das Blitzeis dafür sorgt, dass das Seniorenheim von der Außenwelt für eine Nacht abgeschnitten ist, erreicht Marianna (Patrycia Ziolkowska), die Tochter der gerade verstorbenen Frau Leszek, ihr Ziel.
Manchmal gerät das Alters-Drama unterm sternenklaren Himmel und angesichts der musikalischen Begleitung an den Rand des Kitsches. Auch wenden sich manche Episoden vielleicht etwas zu überraschend und simpel hin zum Guten. Doch abgesehen davon hat Regisseur Enlen die emotionalen Geschichten auf eine angenehm unspektakuläre Weise inszeniert. Und das Ensemble hat dabei den nötigen Raum, den es braucht, damit die Figuren, ihre Eigenschaften und Emotionen lebendig und glaubwürdig erscheinen. Großartig vor allem Ruth Reinecke und Rainer Bock als langjähriges Paar, das sich nun der Herausforderung des letzten Kapitels ihres gemeinsamen Lebensweges stellen muss. (Text-Stand: 4.11.2021)