Die Neuausrichtung des 13 Jahre lang bedingungslos Süßstoff-orientierten Freitagabends im „Ersten“ ist eine der spannendsten Metamorphosen der jüngeren Fernsehgeschichte. Abgesehen von der einen oder anderen Altlast zeigt die ARD mittlerweile viele Filme, die ohne weiteres als „Mittwochsfilm“ laufen könnten. Das gilt auch für das bemerkenswert gut gespielte Ensemble-Stück „Die letzten Millionen“. Das Drehbuch vom Kabarett-affinen Duo Lo Malinke & Philipp Müller (Malediva) erzählt von einer Seniorenheim-Tippgemeinschaft, die den Jackpot knackt und 30 Millionen Euro gewinnt. Der episodisch strukturierte Film beschreibt, was der unerwartete Geldsegen mit den alten Herrschaften anstellt.
Der Tonfall des von „Inga Lindström“-Regisseur Udo Witte nur vordergründig als Komödie umgesetzten Drehbuchs ist scheinbar fröhlich, doch die verschiedenen Einzelschicksale sind durchaus Anstoß zum Nachdenken über unterschiedliche Lebensentwürfe. Die besondere Klasse des Films resultiert nicht zuletzt aus der Beiläufigkeit, mit der Drehbuch und Regie ganze Biografien andeuten. Dass Anna Loos die Handlung als engagierte Altenpflegerin zwischendurch Poesiealbum-mäßig immer wieder kommentieren muss, wäre gar nicht nötig gewesen; anders als anderswo stören die Lebensweisheiten allerdings auch nicht weiter.
Foto: Degeto / Arvid Uhlig
Soundtrack: Jerry Lee Lewis („Great Balls of Fire“), Roy Orbison („Only the lonely“), Asaf Avidan („One day / Reckoning Song“), The Everly Brothers („Bird Dog“), Connie Francis („Who’s sorry now“), Ricky Nelson („Poor Little Fool“), Doctor & the Medics („Spirit in the Sky“)
Nicht alle Erzählebenen sind von gleicher Qualität, was keineswegs an den Schauspielern liegt; die sind ausnahmslos herausragend. Der alte Casanova Conrad zum Beispiel ist eine Paraderolle für Michael Gwisdek: Einmal zu Geld gekommen, trägt er fortan bevorzugt einen glänzenden Dreiteiler und macht aus seinem Lebensabend eine Dauerparty mit junger Damenbegleitung in Mannschaftsstärke; Viagra macht’s möglich. Zu den vielen wunderbaren Einfällen dieses Films gehört auch die Idee, Jerry Lee Lewis’ doppeldeutig zu verstehenden Rock’n’Roll-Hit „Great Balls of Fire“ quasi zu Conrads Erkennungsmusik zu machen.
Natürlich lockt der plötzliche Reichtum auch Aasgeier an: Die von ihrem Sohn (Stephan Grossmann) seit Jahren vernachlässigte Rosi (Ursula Karusseit) wird zur Lieblings-Verwandten, darf aber keineswegs mit in die umgehend erworbene Villa ziehen, sondern muss sich mit einem – immerhin seniorengerecht umgebauten – Gartenhaus begnügen. Jakob und Otto (Ulrich Pleitgen, Joachim Bliese), die seit vierzig Jahren zusammen sind, haben derweil ganz andere Sorgen: Sie erfüllen sich zwar ihren langgehegten Wunsch nach einer Segeljacht, doch bei Jakob zeigen sich unübersehbare Anzeichen einer beginnenden Demenz.
Foto: Degeto / Arvid Uhlig
Und dann sind da noch Karin und Günter (Jutta Wachowiak, Dieter Mann), das Paar, das den Biografien der meisten älteren Menschen am ehesten entsprechen dürfte: Er will in Ruhe seinen Lebensabend genießen und fühlt sich im Heim optimal betreut, sie möchte mit dem Geld die Welt bereisen. Günter ist als einziger aus dem Seniorensextett als Karikatur angelegt: Der frühere Statistiker ist ein Erbsenzähler, wie er im Buche steht, und im Alter unvermeidlich zum Korinthenkacker geworden. An der Farbe seines jeweiligen Pullunders kann man zuverlässig die Wochentage erkennen, und selbstredend hasst er es, wenn seine Routine durcheinander gerät. Prompt stellt er nach einer mit Conrad durchzechten Nacht am nächsten Morgen schockiert fest, dass er den falschen Pullunder trägt. Den Absturz hat zumindest indirekt Karin verursacht, denn sie ist kurzerhand allein nach Kapstadt geflogen. Dort trifft sie auf die vermögende Annegret (Judy Winter), die zwar im Luxus schwelgt, aber einsam ist.
Dieser im Vergleich zum Handlungsreichtum der anderen Erzählstrange übersichtliche und zudem etwas zähe Exkurs ist die einzige Ebene, die den flüssigen Erzählrhythmus des Films unterbricht. Außerdem ist sein dramaturgischer Zweck allzu durchschaubar, denn Karin soll lernen, dass Geld allein nicht glücklich macht. Also kehrt sie zu Günter zurück, allerdings keineswegs reumütig; und auch nicht bedingungslos. Ansonsten aber ist „Die letzten Millionen“ schon allein wegen der sarkastischen Dialoge ein ganz besonderer Film.