Die Küstenpiloten – Kleine Schwester, großer Bruder / Mütter und Töchter

Boske, Kremp, Wegener, Hertneck/Bleyl, Kerstin Ahlrichs. Viel Luft nach oben

Foto: Degeto / Sandra Hoever
Foto Tilmann P. Gangloff

Der doppelte Auftakt zu einer möglichen neuen Reihe der ARD-Tochter Degeto folgt einem beliebten Freitagsfilmschema: Junge Frau muss sich in einer Männerwelt behaupten. Der erste Film, „Kleine Schwester, großer Bruder“, wirkt allerdings wie ein von Oberbayern an die Nordsee verlegtes Remake von „Reiterhof Wildenstein“. Was dort die Voralpen sind, ist hier die Küste, denn gerade Teil 1 macht dem Reihentitel „Küstenpiloten“ (NFP) mit seinen vielen Luftaufnahmen alle Ehre; der Film wirkt, als habe der Arbeitstitel „Schleswig-Holstein von oben“ gelautet. Teil 2, „Mütter und Töchter“, ist insgesamt gelungener: mehr Handlung, weniger Landschaft; der Doppelkonflikt zwischen der Heldin und ihrer Mutter auf der einen sowie ihrer Tochter auf der anderen Seite ist zudem gut gespielt. Das Gesamtniveau aber ist erheblich ausbaufähig. Die Zielgruppe wird zudem die obligate Romanze vermissen.

„Kleine Schwester, großer Bruder“. Turbulenzen kommen immer unerwartet
Wie sich die Muster gleichen: Eine Frau will den elterlichen Betrieb übernehmen, muss sich aber gegen den älteren Bruder durchsetzen – das ist der Handlungskern von „Reiterhof Wildenstein“. „Küstenpiloten“ erzählt eine ganz ähnliche Geschichte. Sorgt dort das bayerische Alpenvorland für das unverzichtbare Augenfutter, so gibt es hier derart viele Kameraflüge über die Nordseeküste (gedreht wurde rund um Büsum und St. Peter Ording sowie auf Helgoland), dass als Arbeitstitel auch „Schleswig-Holstein von oben“ getaugt hätte. Ohne die allerdings sehr schönen Luftaufnahmen sowie weitere mit gefälliger Musik unterlegte Kalenderbilder (Sonnenauf- und -untergänge, Fauna und Flora) wäre gerade der erste Film vermutlich nur noch halb so lang. Denn die Handlung ist übersichtlich: Sie orientiert sich an jenem Schema, das viele Heimatdramen der für den Freitagsfilmplatz zuständigen ARD-Tochter Degeto prägt, allen voran Reihen wie „Weingut Wader“ oder „Daheim in den Bergen“: Frauen zwischen 30 und 40 behaupten sich in Männerwelten. Das Drehbuch bedient sich lauter bewährter dramaturgischer Klischees: Eine Familie rauft sich zusammen, um den Betrieb zu retten; zum Schluss muss die Heldin ein Trauma überwinden, um die Handlung zu einem guten Ende zu führen. Diese Ansammlung von Versatzstücken überrascht, denn Autor ist immerhin Marcus Hertneck, der sich gerade für Degeto-Reihen wie „Reiff für die Insel“ oder „Praxis mit Meerblick“ schon gute Geschichten ausgedacht hat.

Bewertung im Detail: „Kleine Schwester, großer Bruder“ darf sich über 2,5 Sterne nicht beklagen, „Mütter und Töchter“ kommt indes auf zarte 3 Sterne.

„Kleine Schwester, großer Bruder“ beginnt, selbstverständlich, mit einem Rundflug: Hauke Hansen (Jan-Gregor Kremp), Besitzer eines kleinen Privatflugplatzes in Büsum und einer eigenen Fluglinie, zeigt Touristen die Gegend. Zwischendurch wird seine Sicht immer wieder mal unscharf: Der Pilot hat offensichtlich Probleme mit den Augen; später wird ein Grauer Star diagnostiziert. Für den Betrieb ist das fatal: Tochter Swantje (Nadine Boske) ist Flugzeugmechanikerin und hat ebenfalls eine Lizenz, traut sich seit einem Startunfall vor einigen Monaten aber nicht mehr zu fliegen. Da kehrt wie gerufen ihr Bruder heim: Sönke (Hannes Wegener), Typ Draufgänger und Schwerenöter, hatte eine Flugfirma in Russland und möchte nun wieder in der alten Heimat sesshaft werden. Vater Hauke ist derart begeistert von Sönkes Plänen, dass er dem verlorenen Sohn gleich mal das komplette Unternehmen überlassen will. Swantje wiederum ist angemessen empört, schließlich schmeißt sie den Laden seit geraumer Zeit. Als sie dann noch herausfindet, dass ihr Bruder den Flugplatz als Sicherheit für einen Kredit benutzt, das Geld aber keineswegs für Renovierungsarbeiten, sondern für die Begleichung alter Schulden verwenden will, hat sie die Faxen dicke und nimmt das Jobangebot eines Husumer Konkurrenten (Uwe Rohde) an. Freitagsfilmfans wissen: Das war exakt der Handlungskern des Auftakts zu „Weingut Wader“.

Die Küstenpiloten – Kleine Schwester, großer Bruder / Mütter und TöchterFoto: Degeto / Marion von der Mehden
Tückisch. Jule (überzeugend: Marta Laubinger) geht allein ins Watt und verläuft sich. Klare Sache, ein Fall für die Küstenpiloten!

Selbst die erfahrungsgemäß äußerst wohlwollende Zielgruppe des Sendeplatzes wird einräumen, dass die Geschichte etwas dünn ist; letztlich sind es tatsächlich die schönen Bilder (Kamera: Sonja Rom), die den Film retten. Die darstellerischen Leistungen sind ebenfalls in Ordnung, auch wenn es mitunter etwas aufgesetzt wirkt, wenn die Schauspieler eifrig „’n büschen“ sagen, um wie Einheimische zu wirken; gerade der Rheinländer Kremp muss diverse vermeintlich typische Redewendungen der Küstenbewohner in seine Dialoge einstreuen („Lass’ doch mal die Fische im Wasser“). Fliegerweisheiten wie „Turbulenzen kommen immer unerwartet“ sollen für weitere Authentizität sorgen. Dass sich ein Pilot ins Flugzeug setzt, obwohl er eindeutig nicht mehr flugtauglich ist, ist vermutlich ebenso wenig aus der Luft gegriffen wie die archaische Haltung des alten Hansen, der wie ein Bauer seinen Hof dem Erstgeborenen vererben will. Beides wirkt zwar in der heutigen Zeit zumindest befremdlich, aber die Philosophie der Degeto-Geschichten ist mitunter ohnehin überraschend gestrig. Haukes Bemerkung, auf Frauen sei kein Verlass, lässt allerdings noch andere Motive vermuten; aber darum geht es erst in Teil zwei, „Mütter und Töchter“.

Soundtrack: (1) Svenja Hartwig, „Runway“ (Titelsong), Nina Simone („Feeling Good“), AC/DC („Rock’n’Roll Train”) (2) Brian Mackey („Are You Listening”)

Weil allein die Konflikte zwischen dem Trio nicht genug Stoff hergäben, schweben noch einige Satelliten durch die Handlung. Swantjes zwölfjährige Tochter Jule hat zunächst nicht viel zu tun, aber Marta Laubinger spielt das gut. Die gute Seele des Flugbetriebs ist die mütterliche Matilda (Susanne Schäfer), die jedoch regelmäßig mit ihrem Chef aneinandergerät, weil der kein Ohr für ihre Sorgen hat. Swantjes Kummerkasten ist Kneipenwirtin Fenja (Anja Antonowicz). Und dann gibt es noch Naturschützer Eversburg (Jonas Laux), der sich ebenfalls mehrfach ärgert, weil der alte Hansen dauernd im Tiefflug übers Vogelschutzgebiet knattert. Diese Figuren sind aber bloß Stichwortgeber, Tiefe bekommen sie nicht. Das gilt auch für die Inszenierung. Regisseurin Kerstin Ahlrichs hat zuletzt mit drei Filmen für „Die Eifelpraxis“ nicht verhindern können, dass die Degeto-Reihe ihren Zenit unübersehbar hinter sich hat. Einfühlsam umgesetzt ist immerhin eine Szene, in der Swantje mit Sönkes Unterstützung einen Flug versucht, und vergleichsweise dramatisch ist das Finale, als sie mitten in ein Unwetter hinein starten muss, um den Naturschützer zu retten.

„Mütter und Töchter“. Na denn man tau
Der zweite Teil, „Mütter und Töchter“, folgt im Prinzip dem gleichen Muster: Erneut muss sich Swantje gegen Vater und Bruder durchsetzen, und auch diesmal endet die Geschichte mit einer Rettungsaktion; dominierende plattdeutsche Devise ist nun „Na denn man tau“. Allerdings wirkt dieser Film insgesamt runder, zumal es mehr Handlung und weniger Landschaft gibt. Außerdem kommt eine weitere Figur ins Spiel: Vor zwanzig Jahren hat Haukes Frau Britta (Sabine Vitua) die Familie verlassen, was Swantje ihr bis heute nicht verzeihen konnte. Als die Mutter nun wegen einer Beerdigung nach Büsum kommt, muss sich die Tochter zusammenreißen: Britta hat ein Nießbrauchrecht für ein kleines Stück des Flugplatzgeländes, auf dem früher ein alter Schuppen stand; just dort, wo sich heute der Tower befindet. Ist sie nicht bereit, auf dieses Recht zu verzichten, kann Swantje ihren Plan, den Flugplatz zu übernehmen, vergessen. Der entpuppt sich aber ohnehin als Makulatur, denn Vater Hauke besteht darauf, dass auch Sönke einen Anteil bekommt. Mit ihrem unzuverlässigen Bruder will sich Swantje jedoch auf keinen Fall die Verantwortung teilen.

Die Küstenpiloten – Kleine Schwester, großer Bruder / Mütter und TöchterFoto: Degeto / Christine Schroeder
Ausflug auf Büsum: Matilda (Susanne Schäfer), Hauke (Jan-Gregor Kremp), Britta (Sabine Vitua), Jule (Marta Laubinger) und Swantje (Nadine Boske). Der zweite Film, „Mütter und Töchter“, ist besser, auch durch Vituas schauspielerische Verstärkung.

Konflikte zwischen Müttern und Töchtern sind nicht zuletzt aufgrund der überwiegend weiblichen Zuschauerschaft fester Bestandteil der Freitagsfilme im „Ersten“, und Sabine Vitua sorgt dafür, dass die schauspielerische Qualität insgesamt steigt; außerdem ist die elegante Britta keineswegs der Unhold, den Swantjes düstere Andeutungen erwarten lassen. Mindestens ebenso interessant ist der Konflikt zwischen Swantje und Jule, zumal Marta Laubinger ihre gute Leistung aus Teil eins mehr als bestätigt. Das Drehbuch (Marcus Hertneck, Sebastian Bleyl) hat ihr eine tolle Rolle mit einigen knackigen Dialogduellen beschert, die sie bravourös meistert: Jule gehört zu Eversburgs Naturschutzgruppe und will unbedingt bei einer Übernachtung der Nachwuchs-Ranger in den Dünen dabei sein, zumal sie sich in einen der Jungs verliebt hat. Als Swantje ihr das verbietet, weil sie noch zu jung ist, kommt es zum Krach; das Mädchen spielt das richtig gut. Außerdem sorgt Jule maßgeblich dafür, dass es am Schuss erneut spannend wird, als sie der Gruppe allein ins Watt folgt und prompt in einem Schlickloch steckenbleibt. Trotz der Steigerung gegenüber dem ersten Film und sympathischer Ideen – Swantje vertreibt ihre Flugangst, indem sie bei jedem Start „Feeling Good“ von Nina Simone singt – ist das Gesamtniveau erheblich ausbaufähig. Die Zielgruppe wird allerdings in erster Linie die eigentlich doch obligate Romanze der Heldin vermissen; Eversburg ist zwar nicht zu verachten, aber schon vergeben. Andererseits wäre für die Liebe natürlich noch in den Fortsetzungen Zeit; die gibt es jedoch wie stets bei den Degeto-Produktionen nur, wenn die Einschaltquote der beiden Auftaktfilme stimmt.

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Reihe

ARD Degeto

Mit Nadine Boske, Jan-Gregor Kremp, Hannes Wegener, Marta Laubinger, Susanne Schäfer, Jonas Laux, Anja Antonowicz, Uwe Rohde (2) Sabine Vitua

Kamera: Sonja Rom

Szenenbild: Sabine Kasch

Kostüm: Stefanie Bieker

Schnitt: Ines Blum, Benjamin Hembus

Musik: Dominik Giesriegl, Hansjörg Kohli

Redaktion: Barbara Süßmann, Stefan Kruppa

Produktionsfirma: NFP

Produktion: Gabriele Jung, Clemens Schaeffer

Drehbuch: Marcus Hertneck, Sebastian Bleyl

Regie: Kerstin Ahlrichs

Quote: (1): 4,32 Mio. Zuschauer (13,6% MA); (2): 4,42 Mio. (13,4% MA)

EA: 06.11.2020 20:15 Uhr | ARD

weitere EA: 13.11.2020 20:15 Uhr | ARD

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