Die sogenannte Ibiza-Affäre hat 2019 in Österreich ein politisches Erdbeben ausgelöst: Nachdem er betrunken über den Verkauf der Wiener „Kronen Zeitung“ an eine angebliche russische Oligarchin schwadroniert hatte, musste Vizekanzler Heinz-Christian Strache, Chef der rechtspopulistischen FPÖ, zurücktreten; die Regierungskoalition zerbrach. Die Drehbücher zur vierteiligen Miniserie (Sky / W&B-Televisin, epo-film) basieren auf dem gleichnamigen Sachbuch zweier „SZ“-Journalisten, aber das Autorenduo Stefan Holtz und Florian Iwersen erlaubt sich gerade bei den Drahtziehern des Komplotts gegen Strache einige künstlerische Freiheiten. Sehenswert ist „Die Ibiza-Affäre“ vor allem wegen des ausgefallenen visuellen Stils. Die Bildgestaltung (Thomas W. Kiennast) ist ohnehin exzellent, aber Regisseur Christopher Schier baut zudem immer wieder Exkurse ein, die die Ereignisse ähnlich wie die Werke von Michael Moore durch kurze Erklärstücke oder assoziative Momente illustrieren.
Die Erkenntnis, die Wirklichkeit erzähle die haarsträubendsten Geschichten, ist weder neu noch originell. In diesem Fall aber hat sie ihre Berechtigung: Hätte sich jemand die sogenannte Ibiza-Affäre ausgedacht und dem ORF als Drehbuch angeboten, wäre er vermutlich umgehend hinauskomplimentiert worden. Ein hochrangiger Politiker, nicht mehr ganz nüchtern, verhandelt mit einer vermeintlichen Oligarchen-Nichte über den Verkauf der einflussreichen Wiener „Kronen Zeitung“, schwadroniert darüber, ein Mediensystem nach ungarischem Vorbild aufzubauen, und ist gern bereit, der Dame Staatsaufträge zuzuschustern: unvorstellbar – selbst im an politischen Skandalen wahrlich nicht armen Österreich!
Die Adaption dieser Geschichte muss eine echte Herausforderung gewesen sein. Allein der Videomitschnitt, der die Ausführungen dokumentiert, dauert sechs Stunden. Die mutigste Variante hätte darin bestanden, ausschließlich diesen feuchtfröhlichen Abend auf Ibiza nachzustellen, der den früheren FPÖ-Chef und Vizekanzler Heinz-Georg Strache schließlich um Amt und Ansehen brachte. Falls es diese Überlegung gegeben haben sollte, so belegt die dritte Folge der im Auftrag von Sky entstandenen vierteiligen Serie nachdrücklich, warum es klug war, davon Abstand zu nehmen: Ausgerechnet in dieser Episode gibt es einen deutlichen Spannungsabfall. Mag sein, dass das in Österreich anders wahrgenommen wird, zumal zum Beispiel die Leistung von Andreas Lust aus deutscher Sicht gar nicht angemessen genug gewürdigt werden kann: Er verkörpert Strache auf eine fast schon beängstigend authentische Weise; aber wer kennt Strache hierzulande schon mehr als nur dem Namen nach?
Das erfahrene Krimi-Duo Stefan Holtz und Florian Iwersen („Unter Verdacht“, „Das Geheimnis der Hebamme“) sowie Regisseur Christopher Schier haben daher einen anderen Weg gewählt: Sie erzählen den Skandal wie eine Agentengeschichte. Die Meriten für die Publikation der Affäre, die 2019 zum Ende der Regierungskoalition zwischen der ÖVP von Sebastian Kurz und den Rechtspopulisten der FPÖ führte, kassierten zwar die „Süddeutsche Zeitung“ und „Der Spiegel“, aber ins Rollen gebracht wurde sie von zwei Männern, über die nicht allzu viel bekannt ist. Entsprechend groß war die künstlerische Freiheit, die sich das Autorenduo bei den Drahtziehern des Komplotts erlauben konnte. Der eine ist ein Wiener Anwalt (David A. Hamade) mit iranischen Wurzeln, dessen Familie einen Rechtsruck im Land und die damit verbundene Ausweisung aller Ausländer fürchtet. Ungleich schillernder ist jedoch die zweite Figur, ein Privatdetektiv. Gäbe es sonst keinen Anlass, die Miniserie zu empfehlen, so wäre zumindest Nicholas Ofczarek ein Einschaltgrund: Julian Hessenthaler ist eine weitere Bereicherung für die an verkrachten Existenzen reiche Filmografie des Wieners. Während über die hehren Motive des braven Anwalts kein Zweifel besteht, ist es neben der Aussicht aufs große Geld (das er nie erhalten wird) vermutlich vor allem der Nervenkitzel, der diesen Abenteurer reizt. Deshalb überredet er eine russische Freundin (Anna Gorokhova), sich als reiche Oligarchin auszugeben, die ihre vielen Millionen in Österreich investieren will. Wirklich spannend ist daher nicht der Ibiza-Abend mit Strache und seinem Vertrauten Gudenus (Julian Looman), sondern die komplizierte Anbahnung dieses Treffens.
Als ebenfalls clever erweist sich die Idee, die Ereignisse nicht linear zu rekonstruieren. Die vier Folgen à circa 45 Minuten wechseln permanent die Zeitebenen. Den Rahmen bildet die Gegenwart (2020), auf dieser Ebene erzählt der nach Rumänien geflüchtete Detektiv die Geschichte, aber ansonsten springt die Handlung in zum Teil atemberaubenden Tempo hin und her, wobei die entsprechenden Jahreszahlen jeweils bildschirmfüllend eingeblendet werden. Die Dreharbeiten müssen ausgesprochen umfangreich gewesen sein, denn mitunter dauern die zum Teil rasant geschnittenen Rückblenden nur wenige Sekunden. Auf diese Weise wirkt die Serie ungeheuer dynamisch, aber dennoch nie atemlos, weil die Zeitsprünge wie Zahnräder ineinander greifen. Die preiswürdige Bildgestaltung von Thomas W. Kiennast hat ohnehin Kinoqualität, und das nicht nur wegen des Cinemascope-Formats.
Kienast hat zuletzt beim Zweiteiler „Im Netz der Camorra“ ähnlich düster-exzellente Arbeit geleistet und sorgt auch in der Sky-Serie für ein ganz spezielles Licht, zumal die Bildsprache variiert: Sind alle betrunken, ist auch die Kamera fahrig; wird es dokumentarisch, agiert sie wie bei einer Reportage. Besonders reizvoll ist die Idee, immer wieder assoziative Momente im Stil der Filme von Michael Moore einzustreuen: Spricht Strache über kaschierte Parteien-Finanzierung, wird die Methode anschließend mit Handpuppen erläutert; geht es um Wahlgeschenke, freuen sich Kinder unterm Weihnachtsbaum; ein Cartoon-Exkurs schildert wie ein Erklärstück aus der „Sendung mit der Maus“, warum es jahrelang so etwas wie eine Erbfeindschaft zwischen „SZ“ und „Spiegel“ gab. In den Szenen über die Arbeit der beiden „SZ“-Journalisten Obermaier und Obermayer (Stefan Murr, Patrick Güldenberg), deren gleichnamiges Sachbuch als Basis für das Drehbuch diente, ist die Serie ohnehin fast so fesselnd wie einst „Die Unbestechlichen“ (1976), Alan J. Pakulas Hommage an die „Washington Post“-Reporter Woodward und Bernstein. Obermaier und Obermayer (sie heißen wirklich so) kommen unabhängig von der Ibiza-Affäre Mauscheleien in Millionenhöhe auf die Spur, über die sich trotz der drastischen Metapher eines Informanten („Wenn die Sonne explodiert“) in der Alpenrebublik anscheinend niemand aufregt.
Bei aller Freude über die ausnahmslos guten darstellerischen Leistungen, das dramaturgische Konzept, den gelungenen Mix aus Polit-Thriller, Drama und Comedy, die flotte Umsetzung und die Musik (Markus Kienzl), die sich am Großstadtjazz von Filmen über sympathische Ganoven („Ocean’s Eleven“) orientiert: Anders als die Koproduktionen zwischen ARD oder ZDF und ORF wirkt „Die Ibiza-Affäre“ sehr österreichisch, und das nicht nur wegen des mitunter schwer verständlichen Dialekts. Im Verlauf der rund 180 Minuten werden zwar viele Wissenslücken geschlossen, aber wer die Hintergründe nicht kennt, wird vermutlich erst mal Probleme haben, in die Handlung hineinzufinden, weil Holtz und Iwersen einen sehr langen Anlauf nehmen. Regisseur Schier hat zuletzt einen erst zum Finale wirklich fesselnden ORF-“Tatort“ über einen als Frau verkleideten Kindesentführer gedreht („Die Amme“, 2021) und zuvor unter anderem „Lass den Mond am Himmel stehn“ (2020), ein düster gefilmtes Münchener „Tatort“-Krimidrama über die Suche nach dem Mörder eines Jungen. Sky Atlantic zeigt die Serie in zwei Doppelfolgen am 21. und am 28. Oktober. (Text-Stand: 1.10.2021)