Dass diese beiden Königstöchter Zwillingsschwestern sind, ist kaum zu glauben. Amalindis (Zoe Pastelle Holthuizen) ist zart, bildhübsch, und sie ist folgsam und pflichtbewusst – will deshalb auch trotz ihrer künstlerischen Ambitionen der Vermählung mit dem Prinzen Tanka (Jerry Hoffmann) zustimmen. Zottel (Charlotte Krause) dagegen, die Zweitgeborene, ist seit ihrer Kindheit ein Wildfang, der sich am liebsten in der freien Natur aufhält; der Wald ist ihre Heimat, ein Wolf ihr bester Freund – und noch immer sind ihr Hofzeremonien ein Graus. Die Königin (Marisa Leonie Bach) liebt ihre Töchter gleichermaßen, während der König (Ken Duken) keinen Hehl daraus macht, dass er größere Sympathie für seine vernünftigere Erstgeborene hegt. Deren Heirat gerät allerdings in Gefahr, als Amalindis von der Krähenhexe (Jana Pallaske) entführt wird, um ihr, der Schönen Hexe (Caro Cult) und vor allem der Alten Hexe (Desirée Nosbusch) ihr Weiterleben zu sichern. Diese, blind und gebrechlich, droht der völlige Zerfall, sollte es ihr nicht gelingen, zur nächsten Sonnenfinsternis in den Körper einer jungen, schönen Frau zu schlüpfen. Dass es Amalindis trifft, ist Folge eines Pakts zwischen der unfruchtbaren Königin und den Hexen: „Die Erstgeborene für uns, die Zweitgeborene für dich und den König“, lautete die geheime Abmachung einst. Nun ist es ein Vorteil, dass die andere Schwester wild, kraftvoll und furchtlos ist. Zusammen mit Prinz Tanka und dem selbst ernannten Magier Bero (Jürgen Vogel) macht sich Zottel auf den Weg ins Hexenreich.
Hat sich die ARD in den letzten 13 Jahren geradezu ein Imperium an Märchenverfilmungen (2020 sind es 51 Episoden) aufgebaut, so liegt die Schlagzahl im ZDF bei nur einem bis zwei Filmen dieses Genres pro Jahr. Die Produktionen des Zweiten haben dafür Spielfilmlänge, sind filmisch sehr viel aufwendiger gestaltet und in ihrer Narration komplexer; entsprechend sind die Subtexte oft vielschichtiger und diese Filme auch dadurch für die ganz junge Zielgruppe weniger, für ältere Kinder und Erwachsene umso mehr geeignet. Nach „Rübezahls Schatz“ (2018) und „Schneewittchen und der Zauber der Zwerge“ hat die Produktionsfirma Provobis diesen Weg im Jahr 2020 noch konsequenter weiterverfolgt. „Die Hexenprinzessin“ hat – was die audiovisuelle Anmutung angeht – mit den Filmen des ARD-Labels „Sechs auf einem Streich“ nur wenig gemein. Die mehrfach adaptierten Grimm‘schen Märchen sind längst durch – und so ist denn auch diese Mittelalter-Mär sehr frei nach dem nordischen Märchen „Zottelhaube“ entstanden. Neben Max Honert („Die weiße Schlange“) konnte Kai Meyer („Mele“-Trilogie), namhafter Vertreter der deutschen Phantastik-Literatur, als Koautor gewonnen werden. Damit öffnet sich das Genre im ZDF in Richtung des modernen Fantasyfilms. Schließlich muss man sich nach der Fernsehausstrahlung in der ZDF-Mediathek behaupten – und da hat man neben dem Ersten vor allem auch Disney als Konkurrenz.
Diese Konkurrenz spiegelt sich bei „Die Hexenprinzessin“ deutlich in der Inszenierung von Regisseur und Kameramann Ngo The Chau wider. Das Zauberreich der Hexen besteht fast ausschließlich aus künstlich erzeugten Bilderwelten inklusive monströser Special Effects. Der Film wechselt zwischen klassisch realistischen Darstellungen und einem Farbrausch aus dem Computer. Warmes Kerzenlicht dominiert die Innenräume im Schloss; in kaltem, strahlendem Blau und mit bizarren, symbolhaften Formen wird das Territorium der Hexen gemalt. Mag das auf der Zielgeraden für den einen oder anderen auch ein bisschen zu viel (des für TV-Verhältnisse gut gemachten) Hokuspokus sein, so passt doch dieses filmische Spektakel bestens zur Geschichte mit ihren Verwandlungen und Transformationen, mit den Kämpfen und der fluiden Blaublütigkeit. Rollen- und Körperwechsel benötigen einfach entsprechende Bilder. Eine besondere Aufgabe kommt auch dem Schnitt zu: Mal montiert Cutter Felix Schekauski in rasendem Tempo reale und digital bearbeitete Einstellungen, mal schneidet er Interaktionsszenen im Schloss auf eine Art, dass das märchenspezifische Overacting oder das in historischen Kostümen steife Herumstehen einem kaum noch ins Auge fällt. Auch die stimmungsvolle Ausstattung und die Lichtsetzung sind maßgeblich daran beteiligt, dass in dieser ZDF-Produktion alles nach Film und nicht nach Kinderstunde aussieht und es keinen deutlichen Bruch gibt zwischen den Realfilm-Szenen und dem digitalen Augenfutter. Allenfalls die Musik kommt deutlich eine Nummer zu groß daher. Selbst für Großbildschirm mit Soundsystem ist dieses bombastisch dröhnende Tamtam ein ziemlicher Nerventöter.
Da könnte man sich mal wieder die psychologisch-pädagogische Frage stellen, die bereits vor 36 Jahren bei „Die unendliche Geschichte“ aufkam: Können kleinere Kinder bei einem solchen Fantasy-Spektakel überhaupt eine eigene Phantasie entwickeln? Der Überwältigungs-Score ist tatsächlich grenzwertig, da Musik in Filmen – wie Rezeptionsstudien immer wieder beweisen – von Kindern besonders intensiv wahrgenommen wird. Was allerdings die Special Effects angeht, muss man den Film gegen seine potenziellen Wirkungskritiker verteidigen. So finden die Macher über die gesamten 90 Minuten genügend ruhige, humorvolle oder gebrochen romantische Szenen, die für Entspannung und kindliche Entlastung sorgen. Außerdem laden die angenehm emanzipierte Titelheldin, mit Power und doch zauberhaft von Newcomer Charlotte Krause verkörpert, und der Prinz, „der mal nicht aussieht wie Barbies Freund Ken“, wie sein Darsteller Jerry Hoffmann anmerkt, zeitgemäß zur Identifikation ein. Besonders gelungen ist eine furiose Feierszene mit Bier & Fidel in der die beiden einen ekstatisch-sportiven Balztanz zum Besten geben. Auch an dem von Jürgen Vogel gespielten Sidekick – ein fahrender Händler, der sich als Hexenjäger ausgibt und damit ebenso gute wie krumme Geschäfte macht – dürften nicht nur die Kleinen Gefallen finden. Und dass diese Lichtkelche, Feuerbälle, Waldbrände und wilden Rutschpartien nicht Realität, sondern Film sind, gemacht von Menschenhand, und dass grüne Wände und Schauspieler für den Budenzauber sorgen, davon können sich kleine Kinder – auch wenn ihnen (Selbst-)Ironie fremd ist – in den lustigen Outtakes im Abspann überzeugen. (Text-Stand: 26.11.2020)