Am 8. August 2013 jährt sich zum 50. Mal der größte Eisenbahnraub aller Zeiten. Anführer Bruce Reynolds & seine mindestens 14 englischen Posträuberkumpanen erbeuteten in einer akribisch geplanten Nacht- und Nebelaktion 40 prall gefüllte Geldsäcke, hatten aber nicht lange Freude an den kassierten 2.631.684 Pfund Sterling (heutiger Wert: 46 Mio. Euro). Nicht nur in seiner Heimat wurde das Verbrechen durch die Boulevardpresse und das Fernsehen als ein reales Medienspektakel „inszeniert“. Für das Establishment war der Postraub ein Schock. Denn die Bevölkerung hegte bald mehr Sympathien für die populären Posträuber als für die Recken des traditionsreichen Scotland Yard, von denen – wie man erst heute weiß – einige mitkassierten. In Deutschland behandelte bereits drei Jahre später der dreiteilige Straßenfeger „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ mit Horst Tappert den legendären Raub, ein Kriminalfilm, der sich – man kannte das von der Reihe „Stahlnetz“ – weitgehend an die Fakten hielt. Soweit man sie kannte. Mittlerweile gibt es neue Erkenntnisse; erst jetzt, nach 50 Jahren, wurden die Polizeiakten Historikern zugänglich gemacht. Das Ergebnis der Kombination des historischen Materials mit den neuen Recherchen ist das zweiteilige Doku-Drama „Die Gentlemen baten zur Kasse“ von Carl-Ludwig Rettinger.
Foto: Arte / Lichtblick Film
Rettinger über „Die Gentlemen baten zur Kasse“ & seine Methode:
Mich hat es gereizt, zum 50. Jahrestag des legendären Postraubs nicht nur an diesen größten Eisenbahnüberfall aller Zeiten zu erinnern, sondern auch an den NDR-Dreiteiler von 1966, „Die Gentlemen bitten zur Kasse“, einer der wichtigsten Klassiker des deutschen Fernsehens. Schon aus technischen Gründen ist er heute unsendbar, weil das Film-Negativ Anfang der 80er Jahre vernichtet wurde (sic!) und nur noch eine mangelhafte MAZ-Kopie existiert. Aber ich bezweifle auch, ob unabhängig von der technischen Qualität irgendein Sender heute 3 x 75 Minuten in schwarzweiß ausstrahlen würde. Insofern finde ich meine Methode, anstelle neu gedrehter Reenactments längere Ausschnitte aus diesem verblichenen Material einzuschneiden, nicht nur adäquat sondern auch prototypisch, um nicht nur Zeithistorie, sondern auch Fernsehgeschichte zu erzählen und zu reflektieren.
Der Begriff „dokumentarisch“ bedeutet im neuen 160-Minüter etwas anderes als im schwarzweißen Krimi-Klassiker von John Olden und Claus Peter Witt, den der Brecht-Schüler und Dokumentarspiel-Förderer Egon Monk 1966 redaktionell verantwortete. Rettinger geht es zum einen um die Chronologie der Ereignisse. Er hat reichhaltige Fakten zusammengetragen, um der Realität möglichst nahe zu kommen. Er und sein Ko-Autor Martin Witz rekonstruieren die Postraubereignisse in alle denkbaren Richtungen: da wird nach der sozialen Herkunft der Gentlemen-Gauner gefragt; es wird die Sehnsucht der Räuber vom „schönen Leben“ thematisiert; sehr detailliert beschrieben wird der „ultimative Coup“ und die psychologisch schwierige Zeit danach. Die unglaublich hohe Belohnung barg in sich die Gefahr, dass einer der Räuber sich als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft hätte andienen können. Das passierte zwar nicht, aber dennoch wurde ein Posträuber nach dem anderen verhaftet. Scotland Yard hatte offenbar andere Informanten, allerdings kaum brauchbare Beweise. Dafür waren die Haftstrafen von 30 Jahren unverhältnismäßig hoch. Der verunsicherte Staat schlug zurück… Neben der Chronologie der Ereignisse geht es Rettinger auch darum – was sich in seinem vielfältigen historischen Material spiegelt, zu zeigen, wie der Postraub in den Medien über Jahrzehnte ausgeschlachtet, ja geradezu „fiktionalisiert“ wird. Da wird auf dem Boulevard Räuber und Gendarm gespielt, da werden Heimkehraktionen der letzten Flüchtigen inszeniert, da singt Biggs mit den Sex Pistols oder den Toten Hosen, da überreicht Posträuber Reynolds Horst Tappert den Telestar… Rettingers Montage spiegelt also auch Mediengeschichte.
Foto: Arte / NDR
Der Begriff „dokumentarisch“ bedeutet im neuen 160-Minüter etwas anderes als im schwarzweißen Krimi-Klassiker von John Olden und Claus Peter Witt, den der Brecht-Schüler und Dokumentarspiel-Förderer Egon Monk 1966 redaktionell verantwortete. Rettinger geht es zum einen um die Chronologie der Ereignisse. Er hat reichhaltige Fakten zusammengetragen, um der Realität möglichst nahe zu kommen. Er und sein Ko-Autor Martin Witz rekonstruieren die Postraubereignisse in alle denkbaren Richtungen: da wird nach der sozialen Herkunft der Gentlemen-Gauner gefragt; es wird die Sehnsucht der Räuber vom „schönen Leben“ thematisiert; sehr detailliert beschrieben wird der „ultimative Coup“ und die psychologisch schwierige Zeit danach. Die unglaublich hohe Belohnung barg in sich die Gefahr, dass einer der Räuber sich als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft hätte andienen können. Das passierte zwar nicht, aber dennoch wurde ein Posträuber nach dem anderen verhaftet. Scotland Yard hatte offenbar andere Informanten, allerdings kaum brauchbare Beweise. Dafür waren die Haftstrafen von 30 Jahren unverhältnismäßig hoch. Der verunsicherte Staat schlug zurück… Neben der Chronologie der Ereignisse geht es Rettinger auch darum – was sich in seinem vielfältigen historischen Material spiegelt, zu zeigen, wie der Postraub in den Medien über Jahrzehnte ausgeschlachtet, ja geradezu „fiktionalisiert“ wird. Da wird auf dem Boulevard Räuber und Gendarm gespielt, da werden Heimkehraktionen der letzten Flüchtigen inszeniert, da singt Biggs mit den Sex Pistols oder den Toten Hosen, da überreicht Posträuber Reynolds Horst Tappert den Telestar… Rettingers Montage spiegelt also auch Mediengeschichte.
Rettinger über den „Eigen-Sinn“ der Montage:
Seit Beginn der Filmgeschichte existiert die Debatte, ob eher die Mise en Scène oder die Montage das ureigene künstlerische Mittel des Films sei. Im Fernsehen wird nur inszenierten Programmen eine originäre Autorenleistung zugeschrieben. Schlimmer noch, man meint selbst auf den letzten verbliebenen Dokumentar-Sendeplätzen in der Primetime (nach)inzenieren zu müssen, um den gemeinen Zuschauer ansprechen und unterhalten zu können. Tatsächlich aber geht es darum, interessante Geschichten zu erzählen, ob mit Inzenierung oder dokumentarischen Mitteln, ob mit Mise en Scène oder Montage.
Foto: Arte / Lichtblick Film
Die beiden, die zunächst am längsten in Freiheit waren, wurden zu Pop-Ikonen. Vor allem Ronnie Biggs Flucht aus einem Hochsicherheitsknast reanimierte den romantischen Mythos vom Outlaw (aus gutem Grund). Aber auch Bruce Reynolds Odyssee wurde immer wieder von der Boulevardpresse begleitet. In Rettingers Film bildet seine Vita das Zentrum. Wichtigster Zeitzeuge ist sein Sohn Nick Reynolds. Allein seine Lebensgeschichte – als Kind immer auf Achse, mit einem „anwesenden“ Vater gesegnet, der vor seinen Augen verhaftet wird – birgt schon fast genug Stoff für eine eigene Dokumentation. „Die Gentlemen baten zur Kasse“ ist ausufernd, aber immer interessant und – auch wenn man sich am Anfang manchmal fragt: Will ich das eigentlich alles so genau wissen? – am Ende ist der Film eine runde Sache. Wenngleich der Dreh zur Finanzkrise dann doch ein bisschen gewagt wirkt.
Ein Tipp für Fiktionfans: erst den Dreiteiler von 1966 (auf DVD) schauen, der – ganz im Gegensatz zu den Durbridge-Mehrteilern aus jenen Jahren – nicht nur auf der kultigen Nostalgie-Ebene, sondern auch immer noch als packende Ganoven-Ballade funktioniert. Und danach als Bonusmaterial das Doku-Drama gucken.
Begegnen andere Doku-Dramen der Bildernot (kein Bildmaterial für wichtige Situationen) mit Spielszenen, konnte Rettinger auf lange Passagen des ARD-Dreiteilers von 1966 zurückgreifen. So musste er nicht kostspielige Sequenzen mit Schauspielern inszenieren. So hatte er andererseits aber nicht die Möglichkeit, mit Spielszenen seine eigene Sicht der Dinge einzubringen. Die Ausschnitte mit Tappert & Co sind allein Mittel zum Zweck, um den Fakten eine sinnlich reizvolle Hülle zu geben. Außerdem simuliert das Schwarzweiß historische Authentizität, einen Eigen-Sinn, den Spiel-Szenen in den Doku-Dramen Heinrich Breloers (vorbildlich in „Die Manns“) oder aktuell beispielsweise in Joachim A. Langs „George“ über Heinrich George besitzen, können die Spielfilmsituationen bei Rettingers sehr viel klassisch dokumentarischeren Methode nicht erzeugen. Das ist aber auch nicht seine Absicht.