Es geht nicht mehr. Ira Wolfens Vater kann nicht mehr alleine wohnen, der 80-jährige Robert ist endgültig zu einem Pflegefall geworden. Die Tochter aus erster Ehe spürt Verantwortung für ihren alten Vater. Sie will ihn nicht ins Heim abschieben und möchte ihm wieder emotional näher kommen. Ira ist Dolmetscherin, ihr Mann Marquard Berufsberater, auf dem Sprung in die Politik. Beide sind flexibel – und sie wollen versuchen, Robert in ihrer Wohnung zu pflegen. Alles wird behindertengerecht umfunktioniert und eine Rumänin wird zur Rund-um-Betreuung eingestellt. „Ganz schön eng zu viert“, sagt Ira. Und zu fünft erst! Bald steht ihr Stiefbruder Bernd auf der Matte, Roberts Sohn aus zweiter Ehe. Der, ein unverbesserlicher Luftikus, mischt sich ein, weiß alles besser und bringt Iras Pläne gewaltig durcheinander. Mit der Nähe zum Vater wird das wohl nichts. Obwohl Ira und Marquard Vieles auf sich nehmen: der alte Mann hat nur Augen für seinen Jüngsten und auch die Rumänin mag der alte Nörgler recht gut leiden. Als dann Bernd und Elisaveta auch noch miteinander schlafen und unentwegt zusammenhängen, ziehen die Wolfens die Reißleine. Schluss mit der „Bernd-Show“!
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„Die fremde Familie“ erzählt vom Abenteuer der häuslichen Pflege. Autor Daniel Nocke entwirft zwei Familienkreise, deren Schnittmenge der Vater ist, und zeigt damit, wie sich in Zeiten der Patchworkfamilie die Pflege der Eltern verändern kann. „Diese klassische Zuordnung, jedes Kind weiß, wer seine Eltern sind und das Kind kümmert sich um seine Eltern, wenn sie alt sind, existiert immer seltener“, betont der dreifache Grimme-Preisträger. Wie alle Filme des Dream-Teams Krohmer/Nocke ist dieses Familiendrama ein Ensemble-Stück, bei dem die Interaktion, die Rituale, die Rollenspiele, die Selbstlügen den Gang der Handlung bestimmen. Gewählt wird die Perspektive von Ira. Sie nimmt den Zuschauer mit durch den Film, was nicht heißt, dass ihre Meinung mehr wiegt, dass ihre Haltung zu ihrem Bruder die „richtige“ Haltung ist. Jeder hat seine Sicht der Dinge. Für den Zuschauer ist jede Figur verständlich und in ihrem Handeln nachvollziehbar. Es gibt keine Buhmänner. „Wir wollen unsere Figuren in Situationen schicken, in denen Urteile schwierig werden, weil man sich zwischen Lösungen entscheiden muss, von denen keine optimal ist“, sagt Daniel Nocke.
Daniel Nocke über das Thema Themenfilm:
„Ein Thema zu haben, ist gut. Was nicht gut ist, einen Themenfilm zu machen mit einer Aussage, die man am Ende formulieren kann. Oder wo man die Probleme eines Themas quasi auflistet, abarbeitet und den Protagonisten in den Mund legt. Dann findet man eine Lösung und dann ist der Film zuende. Das mag ich nicht.“
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Katja Riemann über das Bruder-Schwester-Verhältnis:
„Bernd traut sich nicht, sich zu öffnen, weil er Schiss hat vor Ira, und sie traut sich nicht, weil sie das Gefühl hat, dass sie sich dadurch kleiner macht oder etwas weggibt von der Stärke, die sie braucht, um diese Situation des Nicht-Geliebt-Werdens überhaupt ertragen zu können… Das sich verändernde Verhältnis zwischen Bruder & Schwester ist die eigentliche Liebesgeschichte dieses Films.“
Und so begleitet der Zuschauer Ira, Marquard, Bernd, Robert und Elisaveta auf ihrem Weg zu einigen lebenswichtigen Entscheidungen. Oft hat man das Gefühl, mit am Küchentisch zu sitzen, sich den Kopf zu zerbrechen, mitzudiskutieren, zu streiten oder einfach nur da zu sitzen und mitzufühlen. Die Dialoge haben wir alle schon gehört, sie sind dem Alltag abgelauscht, konzentriert, komprimiert, dazu lebensecht gespielt – bis in den kleinsten Nebensatz, den Kloß im Hals, das Grummeln im Bauch – von fünf großartigen Schauspielern. Auch das Thema Pflege im Alter, das hier ganz anders als in einem klassischen Themenfilm verhandelt wird, ist vielen Zuschauern nicht fremd. Mehr Realismus geht nicht. Dieser Film treibt den Krohmer-Nocke-Naturalismus auf die Spitze, ist aber zugleich auch der „thematisch“ dichteste Film der beiden. Krohmer (dessen Name man nicht umsonst mit Rohmer assoziiert) und Nocke sind die Künstler einer Phänomenologie des Alltags, in die die Psychologie der Figuren eingeht, ohne die Zeichen ins Bedeutungsvolle zu treiben. Wie sich beispielsweise am Ende die Titel des Abspanns ins Bild schleichen und dem Zuschauer sagen: „Die fremde Familie“ ist ein Film, der nur einen Ausschnitt aus dem Leben zeigt – und dieses Leben geht weiter… Spannender kann Realismus kaum sein! (Text-Stand: 12.1.2011)
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