Nordholm kommt nicht zur Ruhe. In dem kleinen Ort an der Ostsee gibt es mal wieder ein totes Mädchen, das offenbar Selbstmord begangen hat. Und dann ist auch noch Hella Christensen verschollen. Ihr Segelbas Boot treibt führerlos auf dem Meer. Eine beunruhigende Mailboxnachricht der ehemaligen Polizistin veranlasst den Hamburger LKA-Mann Simon Kessler (Heino Ferch), der neuen Dienststellenleiterin in Nordholm Dampf zu machen. Lena Jansen (Isabell Polak) ist allerdings keine unbedarfte Provinzbeamtin, die sich von einem Choleriker-Kollegen gern anbrüllen lässt; sie kommt aus Frankfurt, und sie sieht im Falle Christensen zunächst keinen Handlungsbedarf. Ein weiterer Grund für Kesslers Nordholm-Besuch ist Silke Broder (Anja Kling), mit der er eine etwas unentschiedene Beziehung pflegt. Sie kennen sich seit dessen erstem Einsatz an der Ostsee, als Broders Tochter Jenny einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Jetzt scheint ihre Tochter Charlotte (Lilly Barshy) in die seltsamen Vorkommnisse verstrickt zu sein: Sie war mit dem toten Mädchen am Tag seines Todes verabredet und sie hatte auch Kontakt mit Christensen kurz vor ihrem Verschwinden. Offenbar gab es etwas, bei dem die Ex-Polizistin nicht wegschauen konnte: Hat es mit ihrem Liebhaber, dem Seniorenheimleiter Thomas Haller (Stefan Kurt), oder mit Christensens Schwester Rieke (Ulrike C. Tscharre) und ihrem insolventen Ehemann Paul Lehwald (Hary Prinz) zu tun? Und welche Rolle spielt Hallers todkranke Frau Maria (Leslie Malton) dabei?
Nach „Tod eines Mädchens“ (2015), „Die verschwundene Familie“ (2019) und „Das Mädchen am Strand“ (2020) schickt Thomas Berger nun in seinem Zweiteiler „Die Frau im Meer“ seinen coolen und doch so explosiven Kessler in dessen vierten Einsatz an der Ostsee. Zunächst ist er in eigener Sache unterwegs, hat diesmal keinen Ermittlungsauftrag. Doch die neue Kommissarin in Nordholm erkennt, dass ein solcher Profi in diesem Kaff und bei diesen komplizierten Fällen, die offenbar miteinander in Verbindung stehen, hilfreich sein kann. Und bald ist eine dezente kreative Spannung zwischen den beiden im Spiel. „Der gefällt dir“, bemerkt ihr Kollege Volker Brecht (Tom Radisch), „er erinnert dich an dich, bevor du beschlossen hast, ein guter Mensch zu werden.“ So sehr er auch die Kollegin „beeindrucken“ mag, fehlt Kessler in Bergers viertem Krimi-Ausflug ans Meer seine gewohnte absolute Dominanz im Plot, womit auch ein Stück weit die physische Präsenz von Heino Ferch verloren geht. Dass auch noch Barbara Auer abgängig ist, das verkraftet dieser Zweiteiler nicht. Dramaturgisch und filmästhetisch standen die Nordholm-Filme, ohne Frage kolossal prominent besetzt, immer schon auf tönernen Füßen. Doch Ferch, Auer und deren faszinierenden Charaktere, diese stets reizvolle Konfrontation zweier Gegenpole, sowie die im Verlauf der Handlung zunehmende Zuschauer-Neugier auf des Rätsels Lösung brachten die Geschichten trotz etlicher erzähltechnischer Schwachpunkte stets in den sicheren Hafen.
„Die Frau im Meer“ mag an der Oberfläche als Crime-Drama funktionieren und dürfte dem ZDF gewiss wieder sechs bis sieben Millionen Zuschauer bescheren, doch im Jahre 2023, wo deutsche Fiction-Produktionen mehr denn je dem internationalen Vergleich ausgesetzt sind, lässt sich nicht mehr übersehen, dass dieser Zweiteiler auf überwunden geglaubte Unarten des (deutschen) Krimierzählens baut. Es ist ein Film, der sich inhaltlich aus der Kiste narrativer Versatzstücke bedient: mal wieder ein totes Mädchen, eine verschwundene Frau, Kompetenzgerangel, dysfunktionale Familien, ungeklärte Beziehungen, Dreiecksgeschichten. Vertieft wird wenig und als Thema nichts wirklich ernst genommen. Die Menschen sind dramaturgische Funktionsträger. Das macht den Film zwar nicht wahrhaftig, könnte ihn allerdings spannend machen. Wären da nicht zu Beginn die vielen Ausrufezeichen, jene Blicke (für die Anja Kling prädestiniert ist), die alles sagen und dennoch vom Score bedeutungsvoll begleitet werden, oder stereotype Problem-Interaktionen (Charlotte und Silke Broder, ihr Ex-Mann & Kessler). Der Zuschauer darf nichts selbst entdecken, immer wird ihm der Sinn hinter dem Bild serviert. Und die Dialoge klingen häufig flach wie der Alltag („Nichts in ihrem Verhalten ist noch normal“), sind Krimifloskeln-gesättigt (der Tod des Mädchens ist mal eine „furchtbare Geschichte“, mal eine „tragische Geschichte“), oft zuschauerzentriert („Schade, dass wir hier nie eine Nacht verbracht haben, als wir noch ein Paar waren“) und manchmal präzise und pointiert („Ich glaube nicht, dass es mehr als einen von uns in einem Team geben sollte“). Im zweiten Teil tritt die Krimihandlung auf der Stelle. Jetzt könnte die Stunde des Dramas schlagen. Berger versucht es, doch die Beziehungen bleiben äußerlich, weil es der Whodunit nicht erlaubt, dass man die seelischen Probleme und deren Ursachen benennt. So wabert das Spiel im Vagen. Die Teenagerfiguren schauen gedankenverloren auf die Ostsee, und die Kamera blickt häufig noch mal drauf auf die bedeutungsvollen Gesten. Die Erwachsenen tun es den Jugendlichen gleich, können aber Klärungsversuche („Wir müssen mal reden“) offener angehen, da ihre Beziehungsprobleme den Krimiplot nicht tangieren. Doch seine Glaubwürdigkeit hat der Film da längst verspielt.
Der Regisseur Thomas Berger filmt das Drehbuch des Autors Thomas Berger einfach nur ab. Viele Szenen wirken seltsam leblos, weil die Charaktere nicht aus Eigen-Sinn geboren sind, was den Schauspielern Raum geben könnte, sondern allein dem Buchstaben der schriftlichen Vorlage gehorchen. Berger, dessen zahlreiche Fernseharbeiten seit Ende der 1990er Jahren durchweg gute Qualität versprechen, der unter anderem mit 14 Episoden von „Kommissarin Lucas“ die Krimi-Reihe mit Ulrike Kriener entscheidend prägte und der mit den eleganten Martin-Suter-Verfilmungen („Allmen“) die gepflegte Salonkrimikomödie wiederbelebte, war nie ein Mann der Bilder, der eigenständig filmischen Atmosphäre, eher könnte man ihn einen Schauspieler-Regisseur nennen, der für seine Geschichten immer die passenden Bilder suchte und fand. Die Inszenierung, ein Mittel zum Zweck. Eine gute Methode bei einem guten Drehbuch. „Die Frau im Meer“ hakt nicht zuletzt deshalb, weil sich Regisseur Berger diesmal nicht auf den Autor Berger verlassen kann. Warfen Kritiker 2015 dem ersten Zweiteiler „Tod eines Mädchens“ noch vor, Berger habe sich schamlos an der britischen Krimidrama-Serie „Broadchurch“ bedient, die es zwischen 2013 und 2017 auf drei Staffeln brachte, dürfte dieser Vorwurf 2023 nicht mehr fallen. Die Nordholm-Krimis spielten zwar noch nie in derselben Liga wie die preisgekrönte britische Serie, nach dem Abgang von Barbara Auer wird das in „Die Frau im Meer“ jedoch deutlicher denn je. Und dass der Kritiker, ohne nur eine einzige Filmminute gesehen zu haben, nach dem Überfliegen der Inhaltsangabe und einem Blick auf die Besetzungsliste bereits eine Ahnung hatte, wer der Mörder oder die Mörderin sein könnte, das spricht auch nicht für den Film. (Text-Stand: 8.12.2022)
In einem Provinzdrama läuft Polizeiarbeit einfach anders ab…
… Hier kann man nicht in der Anonymität der Großstadt cool das breite Feld der Ermittlungen abstecken, hier hat man weniger Verdächtige, konfrontiert deshalb die Verdächtigen zunehmend mit den möglichen Mordvorgangs- und Motivhypothesen. Diese Methode ist durchaus nachvollziehbar und dramaturgisch naheliegend, kann aber wie bei „Die Frau im Meer“ mit der Zeit ermüdend wirken. Der Zweiteiler enthält ohnehin schon etliche redundante Passagen. Recherche-Ergebnisse oder Vermutungen, den Fall betreffend, die Kessler gegenüber seiner Freundin Silke Broder äußert, muss er in schöner Regelmäßigkeit wenige Minuten später Kommissarin Jansen noch einmal vortragen.