Er liebt die Natur, das Schöne, sie die großen Auftritte. Glücklich sind Matthias und Nelly Staudacher schon lange nicht mehr. Sie wollen es nur nicht wahrhaben. Und so verwaltet die angehende Gemeinderätin die Fassade ihrer Beziehung, während ihr Mann sich immer mehr von ihr abwendet. Die Sache mit der geplanten Wellness-Oase am See hat ihrer Ehe den Rest gegeben. Nellys Vater, Altbürgermeister der bayerischen Voralpengemeinde, will sich damit unsterblich machen. Aber eine seelenlose Bettenburg will der Schwiegersohn nicht in die schöne Landschaft stellen. Da vergräbt sich der Architekt lieber in die Geschichte der Moorleiche, die er entdeckt hat und die das Dorf kurzzeitg in Atem hält. Doch während die anderen nur wieder Kapital aus dem über 150jährigen Fund schlagen wollen, stillt Matthias mit seinen Recherchen zur tragischen Vita der Toten seine Sehnsucht nach einem anderen Leben. Er weiß noch nicht, dass er da seine ermordete Urgroßmutter aus dem Wasser gezogen hat.
„Die eigene Familiengeschichte anzuerkennen und sich damit auszusöhnen, ist für mich das Kernthema… Die Wahrheit hat eine Sehnsucht, ans Licht zu kommen: Dafür schien mir die Moorleiche ein gutes Bild.“ (Autorin Ariela Bogenberger)
Foto: ZDF / Bernd Schuller
In einer der ersten Szenen von „Die Frau aus dem Moor“ versucht der Architekt noch für einen Augenblick, die widerspenstige Gattin mitzureißen, sie aus der Umklammerung ihrer Herkunftsfamilie zu befreien. Übermütig zerrt er sie ins Wasser. Ein Kuss, dann ist sie weg – womöglich für immer. Fortan gehört ohnehin des Architekten Aufmerksamkeit ganz Anna Wimmer, jener ihm anverwandten ungewöhnlichen Bauersfrau, die lesen & schreiben konnte und der es schon Mitte des 19. Jahrhunderts nicht ausreichte bei einem „guten Mann“, den sie nicht liebt, ihr Auskommen zu finden. Der Architekt wälzt Gemeindechroniken, Kirchen-Bücher und stößt auf die Aufzeichnungen eines Pfarrers, der dieser eigenwilligen jungen Frau sehr nahe stand und der alles weiß von ihrem viel zu kurzen Leben, von ihrer unglückseligen Liebe und ihrem grausamen Tod. „Es ist, als würde ihn ein familiärer Geist aus einer früheren Zeit rufen und ihn dazu drängen, das Geheimnis der Moorleiche zu entschlüsseln, um selbst weiterzukommen“, umschreibt Florian Stetter die Tiefenpsychologie seiner Figur.
„Die Frau aus dem Moor“ von Christoph Stark („Der Vater meiner Schwester“, mehrfach „Bloch“), Regisseur mit Faible fürs Familienpsychologische, ist eine narrativ stimmungsvolle filmische Familienaufstellung, die sich ganz aus den Möglichkeiten des Mediums speist. In den beiden szenisch miteinander verknüpften Geschichten aus den so unterschiedlichen Jahrhunderten werden mehr und mehr soziale Parallelen deutlich und ähnliche Beziehungs-Konstellationen sichtbar. Die aktuellen Konflikte verweisen auf jahrhundertealte Familienbande zwischen zwei Häusern, zwei Geschlechtern, zwei Mentalitäten. Die Autorin, Grimme-Preisträgerin Ariela Bogenberger („Marias letzte Reise“), drängt hier nicht den aus Krimi-Dramen hinlänglich bekannten Mythos der Vergangenheit in ein heutiges Spiel auf Leben und Tod; sie entwickelt die Geschichte vielmehr zu einer psychologisch-philosophischen Suche nach dem „richtigen Leben“. Entsprechend ist der Film auch nicht im klassischen Sinne spannend. So wie die Geschichte auf verborgene Kräfte setzt, so muss man auch als Zuschauer die Ebenen hinter den gleichwohl faszinierend gestalteten Bildern erschließen.
Foto: ZDF / Bernd Schuller
Die Schauspieler, allen voran Florian Stetter als Schöngeist in der Sinnkrise, erleichtern einem den Zugang. Mit seinem Hang zur Empfindsamkeit und der Aura des Entrückten, die er zuletzt als Schiller in Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ wirksam einsetzen konnte, trägt er stark mit bei zu der sehr eigenen, sensiblen Note dieses Fernsehfilms. Treffend besetzt auch Marlene Morreis, die ihrem Rollen-Image der weißblauen Powerfrau, oft nah an der Karikatur, hier eine nachdenklichere Seite abgewinnen darf. Eine Idealbesetzung geradezu ist Rosalie Thomass, deren Figur durch die fast unmerklich in die Gegenwartshandlung eingeschnittenen, oft nur wenige Sekunden dauernden Bilder etwas Unaufdringliches bekommt, das so vorzüglich passt zu deren Anmut und Demut. Dieses fast beiläufig Hingetuschte entspricht auch ganz der Art, wie sich im Film die Vergangenheit in der Gegenwart spiegelt. Zwischen verwandter Sinnsuche & ähnlichen Manifestationen von Macht und Eigensinn tut sich nichts Bedeutungsschweres auf. „Die Frau aus dem Moor“ nach Motiven des Romans „Blut und Wasser“ von Roland Voggenauer besitzt entsprechend eine geradezu literarische Anmutung.
Aber auch die bodenständige Gegenwart in diesem bayerischen Mikrokosmos wird in wunderbaren Miniaturen eingefangen. Skurrile Nebenfiguren wie der Lokaljournalist (Thomas Schmauser), der sich dank der Moorleiche aus der Enge seiner Hofberichterstattung herausträumt, wie Onkel Hans (Branko Samarovski), der sich seine Einsamkeit schön trinkt und dabei immer einen (un)passenden Spruch parat hat („a Frao wär’ gut, aber net zum Verdreschen“) oder wie der Wirt Anton Schladerer (Jockel Tschiersch) haben Seltenheitswert im funktional erzählenden Fernsehen. Letzterer, der den Namen eines Traditionsspirituosen-Hauses trägt, gibt am Ende jenen köstlichen Monolog zum Besten: „Schreib was über mi. I bin was B’sonders. I bin z’frieden und i mog net woanders hin und niamand anders sei. Das ist praktisch a totale Sensation. So selten wie a Moorleich.“ Der intensivste Augen-Blick von „Die Frau aus dem Moor“ ist allerdings dann doch wieder einer aus der Abteilung magische Transzendenz: Vertieft in die Schriften des Pfarrers, sorgt ein Schwenk vom Helden zu eben jenem aufgeklärten Gottesmann, dass die beiden ganz nahe zusammenrücken. 160 Jahre werden in Sekunden überbrückt. Es ist, als würden sich beide anschauen, einander gewahr werden, wie zwei kluge Männer, die wissen, dass Geschichte das Fundament allen Lebens ist. „Dich hätt’ ich gern kennengelernt“, sagt der Architekt. Wie dieser in der Vergangenheit „liest“, so kann man auch als Zuschauer in diesem Film „lesen“… (Text-Stand: 3.9.2014)
Foto: ZDF / Bernd Schuller