Eine Frau weiß nicht mehr, wer ist sie. Es ist mehr als ein Unfall mit Gedächtnisverlust. Brigitta Nielebeck, die vor einem Jahr noch eine der erfolgreichsten Frauen Norwegens war, flüchtet sich in eine psychogene Amnesie. Sie schützt sich vor dem, was war: Sie wollte sich umbringen. Helfen kann ihr jetzt nur noch ihre 16jährige Tochter Marie, die nach dem Scheitern der strahlenden Manager-Ehe in einer Pflegefamilie lebt. Doch sie ist unversöhnlich. „Sie hat Ihr Leben vergessen? Das sollte sie auch“, ätzt sie gegen die Mutter, die vor deren Krise der Tochter die Familienhölle auf Erden bescherte. Marie befindet sich nicht in der glücklichen Lage, vorübergehend im Schutzraum des Vergessens gebettet zu sein wie ihre Mutter. Ihr Schmerz sitzt tief. Sie hat bisher noch nicht gesprochen über das, was sie seit zwei Jahren quält. Und jetzt – typisch: Wieder ist es die Mutter, die die Beziehung bestimmt! Deren Amnesie setzt Marie unter Druck, konfrontiert sie mit ihren Schuldgefühlen. Doch was kann sie schon verlieren? Soll sie ein Leben lang mit dieser Wut herumlaufen? Und so folgt sie dem Rat der Ärzte und begibt sich mit ihrer Mutter und ihrer besonnenen Pflegemutter in das Ferienhaus am Meer, an den einzigen Ort, an dem die Familie jemals glücklich war.
Wie soll ein schwer traumatisiertes Kind einer Mutter helfen, die keine Erinnerung mehr an die Höllen von einst besitzt? So etwas geht nur im Film. „Die Frau am Strand“ ist kein diskursives Problemstück, das sich in die gelebte Realität einer Familie einblendet, sondern es ist ein Film der sein Thema, psychische Krisen und gestörte Kommunikation, auf der Ebene des Fühlens einkreist, ohne sich übermäßig der äußerlichen Mittel des Melodrams zu bedienen. Martin Rauhaus wählt eine Reflexionsform, die therapeutisch anmutet: isoliert vom Alltag reden die Figuren und versuchen, Verhalten zu verstehen, sich dem Gegenüber zu nähern, sich an Vergangenes zu erinnern, und sie versuchen vor allem, ihre Gefühle auszuhalten. In dieser psychotherapeutischen Versuchsanordnung können nicht nur die Protagonisten ohne die Zwänge des momentanen Alltags frei assoziieren – auch der Zuschauer ist befreit von den banalen Geschichten, die in Alltagsdramen häufig miterzählt werden müssen. Dieser Film funktioniert wie ein Gedankenexperiment, in dem das Gefühlte und das Fühlen die Regie übernehmen. Es gibt einige, die so etwas als „Wellness-Fernsehen“ abtun. Man kann „Die Frau am Strand“ aber – ähnlich wie „Das Haus ihres Vaters“, „Der Duft von Holunder“, Und dennoch lieben wir“, „Liebe am Fjord – Abschied von Hannah“ oder „Gestern waren wir Fremde“ – auch als die andere, die „gefühlte“ Seite des dramatischen „Problemfilms“ sehen. Es ist ein eigenes (TV-)Genre, dessen Qualität sich vor allem in der Erzählweise offenbart.
Das Drehbuch kommt – im Gegensatz zu Arthaus-Dramen oder „filmischen“ Themen-Fernsehspielen – nicht ohne klassische Dramaturgie aus. Rauhaus hat den Zuschauer im Blick, ohne seine Figuren an die Wirkung zu verraten. Er geht sparsam mit den Informationen aus der Vergangenheit um. Erst zur Halbzeit packt die Tochter aus, entleert ihr Inneres, entlastet ihre Seele. Doch sie bleibt unberechenbar. Und sie hat auch noch etwas in petto: das, was ihr den größten Schmerz bereitet. Rauhaus dosiert das dramatische Potenzial des Stoffs, ohne dabei grundlegend die Psycho-Logik der Geschichte, in der die Figuren Handlungshoheit besitzen, zu verletzen. Zu schweigen, nicht zu reden über das, was einem auf der Seele liegt, ist ein sehr realistisches Muster. Auch der Vater wird klug von Rauhaus eingeführt und ersetzt im Beziehungsdreieck vorübergehend Marias Pflegemutter, die als eine Art Mediator oder Therapeut fungiert, ohne recht zu merken, dass sie mit ihrem „Mutter-Teresa“-Habitus am Ende Marie vielleicht verlieren könnte. Was sagt doch der Vater, bevor er sich wieder seinen Geschäften zuwendet: „Brigitta Nielebeck hat noch immer erreicht, was sie wollte.“… Eine wunderbar doppelsinnige Erfindung ist die „schreckliche Mutter“, die sich an das, was ihr die Tochter vorwirft, tatsächlich nicht erinnern kann. So kommt es nicht zur (in der Realität wie in Filmen) üblichen Abwehr eines Vorwurfs („ach Kind, du übertreibst mal wieder maßlos“); durch diese Idee befreit Rauhaus auch die Handlung von den üblichen Mustern, hält sich nicht mit rhetorischem Psycho-Geplänkel auf, sondern geht gleich dorthin, wo es weh tut.
So psychologisch und dramaturgisch durchdacht dieses Drehbuch mit seinen ebenso alltagsnahen wie wirkungsvollen Dialogen auch ist – für einen guten Film bedarf es der richtigen Mitstreiter. Matthias Tiefenbacher hat mit seinem kongenialem Kameramann Klaus Merkel oft bewiesen, dass er der ideale Regisseur für vielschichtige Gefühlsdramen ist. Beiden gelingt es auch bei dieser Degeto-Produktion von Studio Hamburg, den Raum zu schaffen, den die Zuschauer (und die Schauspieler) benötigen, um in die Geschichte eintauchen zu können: reduziertes Setting, konzentrierte Szenen und eine Bildgestaltung, die fein nuanciert zwischen Nähe und Distanz wechselt – so wird der Zuschauer zum einfühlenden Beobachter. Und so erkennt er denn auch, dass die Schauspieler ihre Rollen mit Haut und Haaren und allen Sinnen verkörpern – aber dass auch ihr Spiel auf den Wechsel von Nähe und Distanz, von Berührung und Abwehr fokussiert ist. Katja Flint bringt ihre große Gefühlsrollen-Erfahrung ein, und auch Marie-Lou Sellem ist eine sichere Bank für realistische Frauen mit klarer Haltung & gesunder Empathie. Due schwierigste Aufgabe kommt Michelle Barthel („Keine Angst“) zu. Ihre Figur muss den größten Leidensdruck aushalten – und sie muss das alles im Rahmen eines Unterhaltungsfilms zum Ausdruck bringen. Die Grimme-Preisträgerin meistert die Aufgabe mit Bravour – ihr Spiel zwischen Wut, Isolation & leiser Annäherung, Maries jeweilige Befindlichkeit, aber auch ihre Sprunghaftigkeit bestimmen maßgeblich den Gang der Handlung. Trotz dieses famosen Frauen-Trios ist „Die Frau am Strand“ aber weit mehr als ein sogenannter „Schauspielerfilm“? Wenn schon Kritiker-Floskel, dann trifft es „dramatisches Gesamtkunstwerk“ schon sehr viel besser. (Text-Stand: 23.3.2014)