Soldaten der deutschen Wehrmacht treiben eine Gruppe Kriegsgefangener und Fremdarbeiter aus ihrer nächtlichen Notunterkunft, jagen sie über ein Schneefeld und knallen sie gnadenlos ab. Ein deutscher Flüchtlingstreck mit Kindern, Frauen und alten Menschen, der über das vereiste Haff der Ostsee zieht, wird von russischen Jagdfliegern angegriffen. Geschosse schlagen ein, Bomben explodieren, zahllose Menschen sterben. Es sind zwei der emotionalsten und nachhaltigsten Szenen des Zweiteilers „Die Flucht“. Zwei Szenen, die Täter und Opfer zeigen, die Rollen sind jeweils vertauscht. Die historische Schuldfrage wird durch den tödlichen Angriff der deutschen Zivilisten aber nicht relativiert. Die Deutschen sind der Aggressor, die Russen reagieren mit wütender Rache. Was bleibt, ist das Mitgefühl für die, die ihre Heimat verloren haben, egal, ob es Franzosen, Polen oder Deutsche sind.
„In einem Umfeld revanchistischer Ansprüche einerseits und der Einmaligkeit des Holocausts andererseits gab es lange keine Offenheit, über die erzwungene Migration von 12 Millionen Deutschen und dem damit verbundenen Leid zu reden“, so Autorin Gabriela Sperl. Ihr ist es gelungen, ein kluges, nicht oberflächlich ausgewogenes, sondern tief ausbalanciertes Drehbuch zu schreiben, ein Buch, bei dem man an Vieles denken mag, nur nicht an Begriffe wie „Recht auf Heimat“, „Rückgabe verlorenen Eigentums“ oder „Kollektivschuld der Deutschen“ und das auch mehr bietet als die Eventfilme so geliebte Dreiecksdramaturgie.
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Der Film beginnt im Sommer 1944. Lena Gräfin von Mahlenberg kehrt in ihre Heimat Ostpreußen zurück. Dort trifft sie auf ihren kranken, zunächst unversöhnlichen Vater, auf ihren ewigen „Verehrer“ Heinrich Graf von Gernstorff und viele alte gute Bekannte. Schnell entwickelt die selbstbewusste Frau, die einst Ostpreußen verließ, um ihre uneheliche Tochter großzuziehen, ein Verantwortungsgefühl der Familientradition, dem Gut und den Bediensteten gegenüber, auch mit den Zwangsarbeitern pflegt sie einen fairen Umgang. Das hält den Franzosen Francois aber nicht davon ab, die Gräfin immer wieder zu provozieren. Ihre Sympathien für diesen mutigen Mann verdrängt sie, ähnlich wie sie nicht wahrhaben will, dass ihre Heimat nicht zu retten sein wird.
Eine versunkene ostpreußische Welt hat Sperl im ersten Teil von „Die Flucht“ wiederauferstehen lassen. Regisseur Kai Wessel hat daran vor allem imponiert, „dass die Geschichte konsequent aus der Perspektive der Zivilbevölkerung erzählt ist“. An seiner Inszenierung wiederum ist einzigartig der Ehrgeiz, auf computergenerierte Bilder zu verzichten, wie bei Sperl aber auch der Wille zur Reduktion und trotz aller hoch schlagender Emotionen der Wille zu einer klaren Erzählung, die immer wieder die Distanz sucht. Da erwies sich die Schauspielerin, die wie keine andere im deutschen Fernsehen Hitchcocks Blondinen-Prämisse „außen Eis, innen heiß“ verkörpert, Maria Furtwängler, als eine gute Besetzung. Die aristokratische Kühle ist geradezu perfekt in ihre Gesichtszüge eingeschrieben und auch hoch zu Ross macht die Ärztin, Burda-Gattin und erfolgreichste Fernsehkommissarin eine gute Figur. Allein die versteckten erotischen Ambitionen mussten im Kriegswinter 1944/45 extrem unterkühlt bleiben. Von den 65 Drehtagen des Neun-Millionen-Euro-Projekts, fanden 26 in Litauen statt, wo sich Furtwängler & Co bei 18° Celsius durchs Haff quälten.
Die Mentalität der eisernen Gräfin half ihr auch beim Spielen: „Die preußische Haltung, immer Stärke zu zeigen, egal was Furchtbares auch passiert, die empfand ich als Herausforderung“, so Furtwängler. „Ich dachte mir auch: Wie kann ich jammern, wenn ich warmen Tee und Wärmesohlen habe und abends nach einer heißen Dusche im warmen Bett liege.“ Mit Haltung also begab sie sich in ihre Rolle und machte sie so zum etwas zu leuchtenden Symbol jener Zeit, die als „Stunde der Frauen“ in die Geschichte einging. (Text-Stand: 2.3.2007)