Isabell (Stephanie Amarell) soll in der Einsamkeit des Riesengebirges endlich zu sich finden. Die 17jährige notorische Schulschwänzerin macht ihrer alleinerziehenden Mutter Julia (Karin Hanczewski) Sorgen. Das Selbstfindungsseminar von Einar (Godehard Giese) und Meret (Claudia Geisler-Bading) hat sie nicht zufällig ausgewählt. Sie selbst hat sich vor Jahren bei den beiden Experten für systemische Familienaufstellungen therapeutische Hilfe geholt. Isa geht erwartungsgemäß auf Distanz zu dem Erwachsenenkurs und freundet sich stattdessen mit der polnischen Küchenhilfe Tereza (Emma Drogunova) an. Doch dann kann sie sich dieser unerklärlichen Energie & seltsamen Kraft, die von den Familienaufstellungen ausgeht, nicht länger entziehen. Einen besonderen Eindruck auf den Teenager macht der Therapeut, der vom Alter her ihr Vater sein könnte. Aber auch das Schicksal der traumatisierten Kursteilnehmerin Saskia (Alma Leiberg), die noch immer unter dem Verlust ihres ungeborenen Kindes leidet, scheint dem sensiblen Mädchen sehr nahe zu gehen. Als deren Leiche im Wald gefunden wird und Mord nicht ausgeschlossen werden kann, beginnt für Isabell ein Albtraum, aus dem es lange kein Entrinnen gibt. Offenbar hat Einar mit Saskia in der Nacht vor ihrem Verschwinden geschlafen. Überhaupt, dieser Einar: Was verbirgt sich hinter dessen Sanftheit? Weshalb schlägt er Meret, bevor er sie küsst? Und was meinte Tereza, als sie über die Gruppe sagte, „alle schreien durcheinander und die Erwachsenen holen sich kleine Kinder“?
Äußerst wirkungsvoll reichern die Filmemacherin Constanze Knoche („Die Besucher“) und ihr Ko-Autor Leis Bagdach in „Die Familie“ dieses postpubertäre Seelen-Drama an mit Elementen des Thrillers. Coming of age – mit freundlicher Unterstützung einer erwachsenen Psychotherapiegruppe. Und immer schleicht sich das subjektive Unterbewusste in die Bilder und die Geschichten. „Familie kann lähmen, betäuben, sogar Krankheiten verursachen“, sagt der Seminarleiter im Kurs. Dann werden angstbesetzte Familienkonstellationen aufgestellt, es wird geweint, gebrüllt und im Idealfall versöhnen sich die Kursteilnehmer mit ihrer Vergangenheit. Besonders dramatisch stellt sich die Familienaufstellung der jugendlichen Hauptfigur dar. Das Mädchen besteht darauf, dass der Therapeut ihren Vater verkörpern soll; für ihre Mutter war der Erzeuger, den Isabell nicht einmal kennt („Ich hab keinen Vater“), offenbar nur ein One-Night-Stand. Aber weshalb ist die Mutter nicht dabei, weshalb musste sie ausgerechnet nach Deutschland zurück, als die Tochter ihre schicksalhafte Familien-Aufstellung absolvieren muss? Das sonst so zurückhaltende Mädchen schreit, ist wütend: „Wie kann man ein Kind zeugen und sich dann aus dem Staub machen?!“ Kleinlaut und leise antwortet der Vater-Stellvertreter. Dann gibt es eine Umarmung, die Ahnungen zulässt.
Foto: ZDF / Andreas Bergmann
Es ist die Mehrdeutigkeit vieler Situationen und Szenen, die diesen letzten Beitrag aus der ZDF-Thriller-Reihe „Stunde des Bösen“ so aufregend macht. Der Film spielt mit Andeutungen, mit Träumen, mit Bild gewordenen Ängsten. Und immer wieder werden Schauermärchenmotive und erotische Metaphern in den Augenschein der realen Welt gemischt: der mythische dunkle Wald, der böse Wolf, die magischen unterbewussten Kräfte der Sexualität. Missbraucht ein Erwachsener seine Macht als Therapeut oder geht hier mit einem Teenager die Phantasie durch? Die Filmsprache lässt einiges offen: Nicht jede Einstellung, aber auch nicht jedes narrative Moment erklärt sich retrospektiv vollständig. Zwar lässt Knoche den Zuschauer nach 90 Minuten nicht im Ungewissen, dennoch behält der Film über sein Ende hinaus etwas Beunruhigendes. Und der Satz „In allem Bösen schlummert auch das Gute und umgekehrt“ gibt diesem Eindruck reichlich Nahrung. Dieser letzte Zweifel an der Lösung der Geschichte gilt gleichermaßen für die „Heldin“ wie für den Zuschauer.
Die Rechnung des ZDF, mit der (sehr viel besseren zweiten) Thriller-Reihe aus der Redaktion des Kleinen Fernsehspiels Nachwuchskräfte für seine Primetime-Spannungsfilme zu rekrutieren, ist 100%ig aufgegangen. Handwerklich und vor allem filmästhetisch bewegt sich auch „Die Familie“ auf hohem Niveau. Der Vorspann mit dem hyperschmalen Bildstreifen, der sich als subjektiver Blick durch den Spalt eines Zugfensters entpuppt, ist ein gutes Beispiel auch für den hohen Reflexionsgrad der Bilder: Dieser reduzierte Ausschnitt der Wirklichkeit verweist bereits auf die große Bedeutung, die Blicke und Perspektiven in diesem Film übernehmen. Die jugendliche Heldin wird nach ihren Vorahnungen zur kleinen Schnüfflerin; andererseits versinnbildlicht sich ihre noch geringe Lebenserfahrung in dieser Manifestation einer extrem reduzierten Wahrnehmung. Für all diese Entdeckungen, die die Heldin in der Welt der Erwachsenen macht, findet die einmal mehr außergewöhnliche Stephanie Amarell („Mona kriegt ein Baby“) das passende Minenspiel: von teilnahmslos und gelangweilt über versteckte Neugier bis hin zu Furcht & konkreter Todesangst – und über all diesen Emotionen liegt ein milder, fast anti-psychologischer Schleier. Dieses Gesicht neigt zum universalen Ausdruck, zum Zeitlosen, die kindlichen Züge im fast erwachsenen Teenager sind noch erkennbar. Das Spiel mit dem Ungefähren spiegelt sich auch im Einsatz von (Sonnen-)Licht und Schatten. Das Dunkel der Nacht sorgt immer wieder für magische (Schreck-)Momente. Und nicht nur die Embryonalstellung der Hauptfigur im Schlaf ist ein Indiz dafür, dass es in diesem Film tiefgründiger zugeht als in den meisten ZDF-Familienthrillern zur Primetime.