Die Anfängerin

Ulrike Krumbiegel, Bürger, Errath, Alexandra Sell. Frühes Trauma, späte Selbstfindung

Foto: ZDF / Kolja Raschke
Foto Tilmann P. Gangloff

Eine Frau um die sechzig, die einen Neuanfang wagt: wenn das keine Geschichte ist, die perfekt zum ZDF passt, schließlich ist die Hauptfigur exakt so alt wie die Durchschnitts-Zuschauer des „Zweiten“. Alexandra Sell erzählt in ihrem szenischen Regiedebüt „Die Anfängerin“ (Flare Film) die Geschichte der innerlich wie äußerlich versteinerten Ärztin Annebärbel, die sich ihren Kindheitstraum vom Eiskunstlauf erfüllt. Der Film verzichtet klugerweise darauf, dass sich die Rolle von einer unsympathischen Antiheldin zur strahlenden Identifikationsfigur wandelt, aber Ulrike Krumbiegel gelingt es dennoch, Annebärbel mildernde Umstände zu erspielen. Außerdem beschert Sell mit ihrem feinfühlig erzählten Drama ein Wiedersehen mit Christine Errath, der Ikone des ostdeutschen Eiskunstlaufs.

Eine Frau um die sechzig, die einen Neuanfang wagt: wenn das keine Geschichte ist, die perfekt zum ZDF passt, schließlich ist die Hauptfigur mit dem etwas komplizierten Vornamen Annebärbel („in einem Wort“) exakt so alt wie die Durchschnittszuschauer des „Zweiten“. Gerade bei diesem Film ist nicht mal ansatzweise nachzuvollziehen, warum er erst um 23.15 Uhr ausgestrahlt wird. Sehenswert ist „Die Anfängerin“ ohnehin, doch die Handlung vermittelt zudem eine enorme Zuversicht. Die unausgesprochene Botschaft – „Man ist nie zu alt für einen Neuanfang“ – mag schlicht klingen, aber Alexandra Sell (Buch und Regie) hat sie clever verpackt. Ausgesprochen mutig ist dagegen der Entwurf der Hauptfigur, denn die innerlich wie äußerlich versteinerte Annebärbel (Ulrike Krumbiegel) wird auf denkbar unsympathische Weise eingeführt. Sell, die nach einigen Dokumentarfilmen zum ersten Mal einen Spielfilm inszeniert hat, reiht zunächst verschiedene Szenen aneinander. Sie stellen die Hausärztin als nörgelige, arrogante und unhöfliche Person vor, die gegenüber ihren Patienten keinerlei Empathie zeigt. Dass der Gatte (Rainer Bock) sie kurz vor Weihnachten verlässt, weckt nicht etwa Mitgefühl, sondern allenfalls Verständnis für den Ehemann. Die Bilder sind fahl und unbunt, als sollten sie signalisieren, wie farblos Annebärbels Leben ist, sodass die muntere Musik (Can Erdogan, Daniel Sus) wie ein Kontrapunkt wirkt.

Lakonisch konfrontiert die Regisseurin ihre Antiheldin mit deren Traum. Der Prolog zeigt ein sechsjähriges Mädchen beim Eiskunstlauf. 52 Jahre später tauchen die Erinnerungen wieder auf, als Annebärbel, die über die Feiertage Bereitschaft hat, in die Nähe des Sportforums in Berlin-Hohenschönhausen gerufen wird; erst gegen Ende verrät Sell, warum und vom wem der Traum damals begraben wurde. Die Ärztin wird Mitglied im Eislaufverein und Teil einer Seniorengruppe, die für ein Schaulaufen trainiert. Ihre Überheblichkeit hat prompt zur Folge, dass die anderen sie auslachen, als sie ihre ersten unbeholfenen Schritte auf dem Eis macht und hinfällt; aber Annebärbel kämpft sich durch, trotzt den Giftpfeilen der garstigen Gertrud (Tatja Seibt hat die bösesten Dialoge des Films), wird schließlich ehrenvoll in die Gruppe aufgenommen und nach drei Monaten Training mit einem umjubelten Auftritt belohnt. Auch wenn die Geschichte an das Drama „Die Frau, die sich traut“ (mit Steffi Kühnert als krebskranke Ärmelkanalschwimmerin) erinnert und ähnlich märchenhafte Züge trägt: Sell hat klugerweise darauf verzichtet, die Hauptfigur zu überhöhen. Natürlich durchläuft Annebärbel im Verlauf der Handlung eine gewisse Läuterung, aber sie wird nicht zur strahlenden Sympathieträgerin. Der teilweise Sinneswandel ist ebenfalls klug eingefädelt: Annebärbel freundet sich mit einem Mädchen an, das beim Training für die Berliner Jugendmeisterschaften einen erheblichen Rückschlag erlebt. Die junge Maria Rogozina macht ihre Sache nicht nur auf dem Eis, sondern auch bei den Dialogen richtig gut, während Franziska Weisz die Trainerin etwas zu einseitig als schwarze Pädagogin verkörpert. Andererseits gibt es diesen Typus natürlich ebenso wie jene Eltern, die Stephan Grossmann mit seiner Rolle als ehrgeiziger Vater der „Eisprinzessin“ repräsentiert.

Die AnfängerinFoto: ZDF / Kolja Raschke
Annebärbel (Ulrike Krumbiegel) traut sich zum ersten Mal aufs Eis, Gertrud (Tatja Seibt) schaut skeptisch dem Eindringling zu.

„Mit feinem Humor etabliert Sell die Eishalle als Brennglas von Gegensätzen: Alter und Jugend, erfüllte Sehnsüchte und vergebliche Träume. In Die ‚Anfängerin‘ befördert der Sport zwei Coming-of-Age-Geschichten: die späte einer älteren Frau, die innerlich vereist ist und beim Schlittschuhlaufen wieder Wärme in sich spürt. Und die eines mutterlosen Mädchens, das Jugendmeisterin werden soll, aber lieber Kind sein will.“ (epd film)

„Eigentlich alles da für einen tollen Film: Ulrike Krumbiegels Darstellung dieser sturen Frau, die schräge Geschichte eines verspäteten Coming-of-Age, der Trost der Botschaft (es ist nie zu spät!). Alexandra Sell verwandelt die Zutaten aber in ein allzu formelhaftes Feel-Good-Fernsehmärchen.“ (Süddeutsche Zeitung)

„Die Geschichte einer späten Selbstfindung zeichnet das Porträt einer Frau, die sich erst jetzt aus dem Schatten ihrer dominanten Mutter zu lösen beginnt und in der Freundschaft mit einer jungen Leistungssportlerin auch Selbstmitleid und Langeweile hinter sich lässt. Der versöhnliche Sportfilm lebt von seinem lakonischen Humor, beherzten Darstellerinnen und Reminiszenzen an die ambivalente DDR-Sportgeschichte.“ (filmdienst)

Im Unterschied zu diesen Figuren räumt Sell ihrer Heldin ganz erhebliche mildernde Umstände ein, denn die Frau ist mit einer Mutter geschlagen, die im Krimi als Erklärung herhalten könnte, warum ein Sohn zum Serienmörder geworden ist; Annekathrin Bürger, eine der großen Schauspielerinnen des Defa-Kinos und fast vierzig Jahre (1965 bis 2003) Mitglied des Ensembles der Berliner Volksbühne, verkörpert die Frau als Prototyp aller grausamen Filmmütter. Gerade in Ostdeutschland werden sich die Zuschauer aber vor allem über ein Wiedersehen mit Christine Errath freuen. Die Ostberliner Weltmeisterin von 1974 und Europameisterin der Jahr 1973 bis 1975 musste ihre glanzvolle Karriere schon mit 19 Jahren beenden. Sell macht die Ikone des Eiskunstlaufs der DDR zum Stargast des Films und verknüpft ihre Biografie auf verblüffende Weise mit dem Leben der Hauptfigur. Weil es ihr außerdem gelungen ist, Errath zur Rückkehr aufs Eis zu überreden, kommt es zu einem Comeback im Sportforum, dem der Film seinen ersten Höhepunkt verdankt, zumal die einstige Weltklassesportlerin auch mit Anfang sechzig auf dem Eis immer noch eine große Aura entfaltet. Den zweiten Höhepunkt gönnt die Regisseurin Annebärbel, und erneut zeigt sich, mit wie viel Feingefühl sie das Drehbuch geschrieben hat: Der misslungene Auftakt der Kür weckt umgehend die Erinnerungen an die traumatische Erfahrung von einst, aber diesmal entwickeln sich die Dinge in eine gänzlich andere Richtung. Zu den Bildern erklingt das Lied „Frei“ von Reinhard Mey. Die Szene ist trotz entsprechender Textzeilen („Der Gefangenschaft entflohen, alles and‘re einerlei, du bist frei, frei, frei, endlich frei!“) und einer ersten menschlichen Regung der finsteren Mutter kein bisschen kitschig; ein weiteres Qualitätsmerkmal dieses guten Films, den das ZDF bedenkenlos an einem Montag um 20.15 Uhr hätte zeigen können. (Text-Stand: 17.6.2019)

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Kinofilm

ZDF

Mit Ulrike Krumbiegel, Annekathrin Bürger, Maria Rogozina, Christine Stüber-Errath, Rainer Bock, Stephan Grossmann, Franziska Weisz, Reinhard Ketterer, Judith von Radetzky, Tatja Seibt, Ernst-Georg Schwill

Kamera: Kolja Raschke

Szenenbild: Beatrice Schultz

Kostüm: Charlotte Sawatzki, Sandra Ernst

Schnitt: Halina Daugird, Alexandra Sell, Vessela Martschewski

Musik: Can Erdogan, Daniel Sus

Soundtrack: Reinhard Mey („Frei“), MP O’Reilly („The Longest Day“)

Redaktion: Christian Cloos, Doris Hepp

Produktionsfirma: Flare Film, cine plus

Produktion: Martin Heisler

Drehbuch: Alexandra Sell

Regie: Alexandra Sell

EA: 08.03.2019 20:15 Uhr | Arte

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